Die Schließung des Edeka-Markts und eines weiteren Ladens im Tutzinger Ortszentrum sowie die Folgen solcher Entscheidungen für die Gemeinde sorgen für anhaltenden Gesprächsstoff. In der Kommentierung zur Berichterstattung auf vorOrt.news spiegelt sich dies wider. Dabei werden auch Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Raums erörtert. Einer der Kommentare (siehe unten auf dieser Seite) zitiert Details aus einem unveröffentlichten Dokument mit dem Titel "Lebenswerte Stadt. Urbane Gemeinschaften und Öffentlicher Raum". Eine Grundlage für Arbeiten an einem noch lebenswerteren Tutzing? Bestimmt sind solche Ansätze diskussionswürdig.
Der Beitrag, auf den sich die Kommentare unten auf dieser Seite beziehen, war zunächst am 30. Mai 2020 erschienen, dem letzten Verkaufstag von Edeka in der Ortsmitte. Wir haben ihn mit neuen Bildern illustriert:
Tutzinger Einkaufsmagnet über Jahrzehnte
Für viele Tutzinger wird es heute recht wehmütig sein. Beim Edeka in der Tutzinger Ortsmitte ist der letzte Verkaufstag. Dabei war der "Edeka" an dieser Stelle nur eine eher kurze Episode. Die meisten Einheimischen sprechen noch von "Kaiser's" oder von "Tengelmann". Über Jahrzehnte war dieses Geschäft Einkaufsmagnet in dieser Gemeinde - viel mehr als ein Geschäft. Ein Mittelpunkt, ein Treff, eine Gelegenheit zum Ratschen.
Über lange Zeit war dieser Markt überhaupt der einzige Supermarkt in Tutzing. Die anderen großen Märkte kamen erst viel später dazu: nördlich an der Hauptstraße auf dem Suiter-Gelände in den 1970er Jahren, südlich auf dem früheren Textilgelände an der Lindemannstraße 2011. Beim zentral gelegenen Markt an der Hauptstraße war Ortsleben pur. Ungezählte Informationsstände von Tutzinger Parteien standen dort vor Wahlen, viele Menschen sah man dort vor oder nach ihren Einkäufen in angeregten Gesprächen. Später schauten sie dann meist auch noch in anderen Läden rundherum vorbei, für die dies eine wertvolle Kundenfrequenz bedeutete.
Heute endet diese Ära. Die Entscheidungen dafür wurden nicht in Tutzing getroffen. Das haben Manager weit weg erledigt, die Tutzing wahrscheinlich gar nicht kennen, die von all dem nichts wissen, für die dieser Markt nur einer von sehr vielen ist. Das sind Leute, die nach wirtschaftlichen Kriterien vorgehen, die Umsatz- und Gewinnentwicklungen vergleichen, für die aber Aspekte der Gemeinschaft, des Zusammenlebens oder gar der Menschlichkeit keine Rolle spielen. Ob und wie nun beispielsweise ältere Leute noch zu Fuß einkaufen können und was der von Edeka auf Plakate geschriebene Verweis auf die beiden anderen Märkte für sie bedeutet, das ist für solche Manager wohl kaum ein Thema.
Kommunikation bei Edeka „bisher inexistent und völlig schief gelaufen“
Wenn es sich bei Edeka um ein Unternehmen wie jedes andere handeln würde, wäre dies nicht weiter verwunderlich. Aber Edeka ist nach eigener Darstellung ein genossenschaftlich geprägter Verbund. „Einer für alle: der Genossenschaftsgedanke“ - solche Aufrufe schreibt das Unternehmen plakativ auf seine Webseite. Vom „Handlungsfeld Gesellschaft“ ist da die Rede. „Auf allen drei Stufen des EDEKA-Verbunds findet gesellschaftliches und soziales Engagement facettenreiche Ausprägungen“, so eine der vielen schönen Formulierungen. Und weiter: „So selbstverständlich wie der Handel mit Lebensmitteln, so selbstverständlich ist es für die EDEKA-Kaufleute auch, sich im Interesse des Gemeinwohls für soziale Zwecke einzusetzen.“
Mit solchen Phrasen hebt sich Edeka vermeintlich von der sonst so harten, oft genug unmenschlich erscheinenden Wirtschaftswelt ab. Aber das Tutzinger Beispiel belegt: In der ganz normalen Realität ist davon wenig übrig geblieben. Die Vermieterin des Marktes, Bettina Müller, ist noch nicht mal von Edeka über die bevorstehende Schließung informiert worden - zu einem Zeitpunkt, als die Spatzen diese Nachricht bereits von den Tutzinger Dächern pfiffen. Eine „Gebietsleiterin Expansion“ hat sich später bei ihr dafür entschuldigt, dass sie „leider über diese wichtige Gegebenheit“ nicht von Edeka in Kenntnis gesetzt worden sei und dies anderweitig erfahren habe. Hier sei die Kommunikation bei Edeka „bisher inexistent und völlig schief gelaufen“.
Eine Nachfolgelösung gab es schon - aber Edeka machte nicht mit
Diese Entschuldigung ehrt Edeka oder wohl vor allem diese Gebietsleiterin, aber sie belegt exemplarisch, wie wenig bei diesem Unternehmen der Genossenschaftsgedanke noch gelebt wird. Erschreckend deutlich wird dies auch beim Umgang mit einer Nachfolgelösung. Ein Tutzinger Unternehmer, Erdal Babacan, würde den Edeka-Markt gern unter diesem Namen fortführen - als Lizenznehmer von Edeka und damit unterstützt von dem Handelsverbund. Doch da machte Edeka nicht mit, denn das hätte die Fortführung dieses Namens bedeutet. Die wollte das Unternehmen nicht - und allein, ohne eine solche Unterstützung, will es Babacan verständlicherweise nicht wagen.
Das Unternehmen sei für andere Nachfolgelösungen offen, behauptet ein Sprecher. Doch der hohe Anspruch von Edeka, bis hin zu angeblichem Interesse des Gemeinwohls, hätte es erfordert, solche Überlegungen näher zu prüfen, zumindest verantwortliche Manager nach Tutzing zu schicken, in Gesprächen vielleicht auch mit anderen Gewerbevertretern oder der Gemeinde eine Lösung zu suchen. Nichts davon ist geschehen.
So ist der angebliche Einsatz von Edeka „im Interesse des Gemeinwohls für soziale Zwecke“ wohl doch nur eine Worthülse. Im Interesse des Gemeinwohls wäre es natürlich gewesen, bereits vorhandene Ideen für eine Fortführung des Markts an der Hauptstraße zu unterstützen.
Die unfreundliche Seite der Wirtschaft, die neulich erst Adidas so bemerkenswert zur Schau gestellt hat, tritt auch in diesem Fall nur allzu deutlich zu Tage. Einer der bedenklichen Aspekte ist, dass viele Menschen solche Auswüchse mit allen auch kleinen, sorgfältig arbeitenden Unternehmen in einen Topf werfen und dass damit häufig völlig undifferenziert das Bild einer insgesamt "bösen" Wirtschaft gezeichnet wird.
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Kommentare
vielen Dank für die heutige ausführliche Stellungnahme anhand der Dokumentation "Lebenswerte Stadt". Es freut mich sehr, dass es sich gelohnt hat, Sie um eine solch detaillierte Stellungnahme zu bitten, denn dieses Dokument beinhaltet alles, was wir Bürger, besonders aber die Bürgermeisterin und der Gemeinderat, als Pflichtlektüre thematisieren und ausführlich diskutieren müssen, und das mit absoluter Priorität, denn es sind wirklich wir alle betroffen. Darf ich noch erwähnen, diskutieren ist gut , dann schnellstens agieren, noch besser. Ich bin und bleibe optimistisch, in diesem Sinne hoffe ich auf zahlreiche weitere Diskussions-Beiträge, wohl wissend, dass wir Silberlocken uns bereits eine ganze Reihe von Fehlern eingestehen müssen, die die Jüngeren noch vor sich haben, und das ist das reizvolle an der ganzen Geschichte.
da wir uns nicht persönlich kennen, werde ich nur auf den konstruktiven Teil Ihres Kommentars eingehen (andere würden an dieser Stelle wahrscheinlich den Ausdruck "ok, boomer." nutzen..).
Natürlich möchte ich Ihnen nichts vorenthalten, daher teile ich mit Ihnen an dieser Stelle einen Ausschnitt aus einem Dokument, welches in Zusammenarbeit mit LMU und TUM vor ein paar Jahren entstanden ist (unveröffentlicht).
Die Arbeit trägt den Titel "Lebenswerte Stadt. Urbane Gemeinschaften und Öffentlicher Raum.".
"Aus der Sicht heutiger Problemstellungen wird es daher notwendig, die Elemente der Urbanität umzuformulieren und dadurch eine höhere Anpassungsfähigkeit zu erreichen. Folgende Elemente sollten gemeinsam mit dem Begriff Urbanität gedacht werden:
• soziale Chancengleichheit im Sinne der Überwindung sozialer Ungleichheit
• Demokratie durch Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen an politischen
und planerischen Entscheidungen
• Präsenz der Geschichte durch Erhalt und Nutzung historischer Zeugnisse
• Versöhnung mit der Natur durch ökologischen Umbau der Stadt
• neue Einheit des Alltags durch gesteigerte individuelle Souveränität über Zeit
• Akzeptanz unterschiedlicher Lebensformen
• Offenheit der Planung durch mehr Flexibilität des Gebauten, Bereitstellung von Räumen für ungeplante Aktivitäten, offener Beteiligungsverfahren und maximale Revidierbarkeit des Gebauten
• Polyzentralität, nicht Konzentration auf ein vorhandenes Stadtzentrum
• multikulturelle Stadt als Konglomerat verschiedener Städte innerhalb einer Stadt durch Zulassen freiwilliger sozialräumlicher Grenzziehungen
• Differenzierung öffentlicher und privater Räume
Abschließend kommt Wüst zu dem Schluss, dass Leitbilder als Grundlage für die Steuerung von Stadtentwicklungsprozessen sinnvoll sind, da sie einen Orientierungsrahmen bieten und die Chance eröffnen, sich Schritt für Schritt einem „kollektiv wünschenswerten Zustand“ zu nähern.
Die Stadtsoziologie sieht gleichsam eine Schnittstelle zwischen Urbanität und öffentlichen Raum, welcher ein wichtiges Instrument in der Stadtentwicklung darstellt. So wird ein direkter Zusammenhang zwischen individuellem Verhalten und der baulich-räumlichen Struktur der Stadt unterstellt, da der öffentliche Raum der Ort ist, an dem sich urbanes Verhalten, also Urbanität, durch Begegnung mit „dem Fremden“ räumlich ereignet."
Und weiter heißt es:
"Damit der öffentliche Raum wieder eine erhöhte Aufenthaltsqualität erfährt, können bestimmte städtebauliche Maßnahmen durchgeführt werden. Zum einen dient eine Verkehrsberuhigung von Straßen und zum anderen die Verlegung von Parkmöglichkeiten aus dem Straßenraum dazu, dass der öffentliche (Quartiers-)Raum einer breiten Nutzung durch die Bewohner zugänglich gemacht wird.
Die Verlegung von Parkraum ist sicherlich nicht unproblematisch, kann aber sicherlich durch gut geplante Nahmobilität, als Alternative zum Auto, kompensiert werden.
Die wichtigste Funktion des öffentlichen Raumes ist es jedoch, soziale Kontakte zu ermöglichen. So entsteht während alltäglichen Handlungen, wie z.B. Einkaufen, oder speziellen Versammlungen, bspw. Gemeindefesten, die Möglichkeit soziale Netzwerke zu knüpfen und zu pflegen. Soziale Kontakt werden direkt oder indirekt durch den öffentlichen Raum unterstützt und führen zu einem verbesserten subjektiven Wohlbefinden.
Durch die Aneignung des öffentlichen Raumes durch verschiedene soziale Gruppen, wird ein identitätsstiftender, sozialer Raum geschaffen. Das schließlich unterstützt die gemeinschaftsbildende Funktion des öffentlichen Raumes.
Passend dazu haben Schophaus und Kruse das Konzept der „permanenten Temporarität“ entwickelt. Es ist aus der Frage heraus entstanden, ob Brachflächennutzung zur nachhaltigen Entwicklung von Stadträumen beitragen kann.
Durch den Umstand, dass die Nutzungsbedürfnisse der Einwohner heterogen und vielfältig sind, wäre es sinnvoll, die ungenutzte städtische Ressource der Brachflächen als Übergangsraum für Nutzungsangebote zu nutzen. Somit könnte öffentlicher Raum gebildet werden und durch die zeitlich begrenzte Zwischennutzung würden „Zwischenräume“ entstehen. Dies können auch spontane Nutzungen sein, wie „urban gardening“-Projekte, Märkte oder als Bühne für Performance-Darstellungen.
Auch für Künstler und junge Start-Ups sind kostengünstige Mietflächen teilweise überlebensnotwendig. Diese „Lückenfüller“ können nach der These von Schophaus und Kruse unter bestimmten Voraussetzungen zu Initiatoren einer andauernden Nutzung werden. Durch prozesshafte Entwicklung besteht die Chance, eine permanente Form der Nutzung zu erreichen. [...]
Abschließend lässt sich sagen, dass Gemeinschaft durch die Möglichkeit der Selbstentfaltung und Anerkennung des Einzelnen entsteht. Wenn dies durch städtebauliche Maßnahmen gestützt wird, indem öffentlicher Raum und seine freie Aneignung möglich gemacht wird, so bekommen wir eine urbane Gemeinschaft im Sinne Etzionis, die durch eine urbane Lebensweise gekennzeichnet ist.
Aber nicht nur eine Gemeinschaft in der Stadt ist denkbar, sondern eher viele, die wiederum eine große Gemeinschaft, eine Stadt ausmachen. Berücksichtigt man bei dieser Überlegung noch die Einbindung der Stadtnatur und ihrer Biodiversität, bekommen wir ausgehend von dem Phänomen der Zwischenstadt, eine Hybridform, die der ökologisch-solidarischen Gemeinschaft."
Sicherlich lässt sich über viele der im Ausschnitt erwähnten Punkte gut diskutieren! :)
Herzliche, generationenübergreifende Grüße
Timo Burmeister
Dafür muss man sich definitiv nicht auf Wirtschaftseinheiten verlassen und um diese trauern..
danke für Ihre Hintergrund-Informationen.
Aber mit dem letzten Absatz komme ich nicht ganz klar. Welche Menschen meinen Sie, die "alles in einen Topf werfen" und das Bild einer "bösen" Wirtschaft im Kopf haben?
Gibt es da evtl. Umfragewerte?