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"Frei von ideologischen Denkmustern"

Vom PWB zu den Freien Wählern: 50 Jahre engagierte Kommunalpolitik für Tutzing

Voller Tutzinger Historie war ein Teil des Tutzinger Bahnhofs am Sonntag. In den Räumen, in denen früher einmal ein Bistro betrieben wurde, haben die „Freien Wähler“ ihr 50jähriges Bestehen gefeiert. 1970 hatten Konrad Erhardt und andere die Gruppierung unter dem Namen „Parteiloser Wählerblock“, kurz PWB, gegründet. An den Wänden des früheren Bahnhofs-Bistros, das als ausgefallene Lokalität für die Feier diente, hingen viele Erinnerungen in Form von alten Wahlplakaten und Zeitungsausschnitten, und natürlich gab es viel Gesprächstoff. Denn in diesem halben Jahrhundert haben der PWB und - seit 1999 - die Freien Wähler die Geschicke von Tutzing maßgeblich mitbestimmt.

Bald nach der Gründung wurde der PWB zur zweitstärksten Gruppierung im Gemeinderat hinter der CSU. Seit 2018 stellen die Freien Wähler mit Marlene Greinwald sogar die Bürgermeisterin. „Wir Freie Wähler können wunderbar streiten und diskutieren“, sagte die Rathauschefin und ergänzte: „Denken Sie an Conny Erhardt.“ Aber in der Gruppierung habe man sich immer wieder vertragen: „Wir haben miteinander reden können und einen Konsens gefunden, wir können aber auch unterschiedlich abstimmen.“

Besonders freute sich Marlene Greinwald auch über viele Frauen, die sich derzeit bei den Freien Wählern engagieren. Dass die Kandidatenliste der Freien Wähler für die Kommunalwahl im März hälftig von Frauen und Männern besetzt ist, hatte sich so ergeben, das war keine Vorgabe gewesen. „Plötzlich haben wir fast mehr Frauen als Männer“, sagte Greinwald fast erstaunt.

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Ein Prost auf die Freien Wähler: Cornelia May (4.v.li.) mit etlichen Mitstreitern, darunter Marlene Greinwald (5.v.li.), Toni Aigner (3.v.li.) und Matthias Vilsmayer (2.v.re.)
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Cornelia May: "Freude an kommunaler Politik"

Marlene Greinwald selbst hat die Position der Vorsitzenden 2018 nach ihrer Wahl zur Bürgermeisterin abgegeben. Ihre Nachfolgerin ist seitdem Cornelia May. Sie ist erst die vierte Vorsitzende seit der Gründung vor 50 Jahren - für den Ehrenvorsitzenden Toni Aigner ein klares Zeichen von Konstanz.

Cornelia May sieht die Freien Wähler von Tutzing als „Erfolgsgeschichte“, die eng mit der Freude an kommunaler Politik verbunden sei. Frei von ideologischen Denkmustern habe man in dieser Gruppierung schon immer um die beste Lösung gerungen. „Zuhören, Ausgleich finden zwischen den unterschiedlichen Interessen“, sagte sie: „So verstehe ich Demokratie.“ Es gehe darum, die Zukunft zu gestalten und die Dinge zum Besseren zu wenden, sagte sie: „Nicht irgendwie und irgendwann, sondern sofort und vor der eigenen Haustür“.

Auch Matthias Vilsmayer, der Kreisvorsitzende und Landratskandidat der Freien Wähler, legte den Schwerpunkt in einem Grußwort ganz aufs lokale Engagement. Warum die Landratskandidatur? „Weil mir die Heimat am Herzen liegt.“ Hier sei er verwurzelt, betonte der Gilchinger. Er hoffe, dass einige der fünf Tutzinger Kandidaten der Freien Wähler den Sprung in den Kreistag schaffen, sagte er. Marlene Greinwald sei auf Platz zwei sehr aussichtsreich. Es sei wichtig, dass Bürgermeister im Kreistag vertreten seien. Die Freien Wähler würden ohnehin „Bürgermeister-Fraktion“ genannt. Etliche von ihnen gestellte Rathauschefs sind im Kreistag vertreten, so Anna Neppel (Andechs), Rainer Schnitzler (Pöcking), Bernhard Sontheim (Feldafing) und Michael Muther (Weßling), außerdem auch Alt- und Vizebürgermeister wie Ferdinand Pfaffinger (Starnberg), Thomas Reich (Gilching) und Albert Luppart (Pöcking).

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Leclaire: "Ich bin inoffizielles Gründungsmitglied"

Toni Aigner, der zweimal Bürgermeisterkandidat war, erinnerte an den Anlass für die Gründung des PWB. Heftige kommunalpolitische Auseinandersetzungen hatten damals zu Irritationen in Tutzing geführt, der frühere Bürgermeister Peter Dreer war zurückgetreten. Der Name „Freie Wähler“ sei 1970 vergeben gewesen, deshalb habe man sich für den „eigenartigen Name“ PWB entschieden.

„Unsere Partei heißt Tutzing“, so lautete damals ein Motto. Für die vorgezogene Bürgermeisterwahl habe es vier Kandidaten gegeben, „aber keinen Tutzinger“ - so habe es der Gründer Konrad Erhardt oft beklagt. „Natürlich waren es Tutzinger“, sagte Aigner am Sonntag dazu, „sie wurden aber von den alten Tutzingern nicht als Tutzinger angesehen.“ Die Antwort des PWB war der Bewerber Heinrich Köppel. Doch gewonnen hat die Stichwahl am 6. Dezember 1970 ein „Zuagroaster“: der nicht mal 35 Jahre alte Dr. Alfred Leclaire, der für die CSU antrat, noch keine fünf Jahre in Tutzing lebte und Dozent an der Akademie für politische Bildung war. Der heute 84 Jahre alte Leclaire war bei der Jubiläumsfeier anwesend, und er wurde mit Beifall empfangen.

Leclaire selbst glaubt rückblickend mit seiner Kandidatur die Bildung des PWB geradezu gefördert zu haben. „Ich bin inoffizielles Gründungsmitglied dieser Vereinigung“, sagte er schmunzelnd mit erkennbarer Sympathie für seinen langjährigen kommunalpolitischen Gegner, dessen Bürgermeisterkandidaten er anschließend 26 Jahre lang „abgeschmettert“ hat, wie es Aigner seinerseits durchaus respektvoll formulierte. Aigner selbst scheiterte 1990 und 1996, nachdem es zuvor Heinrich Köppel (1970 und 1972) und Konrad Erhardt (1978) nicht geschafft hatten. Lediglich 1984 gab es keinen Bürgermeisterkandidaten des PWB. 2002 – da waren es schon die Freien Wähler - unterlag Martin Büscher gegen Peter Lederer von der CSU, 2008 schied Gisela Förster schon im ersten Wahlgang aus. 2014 dann der erste „halbe“ Sieg: Die Freien Wähler unterstützten erfolgreich den ÖDP-Kandidaten Rudolf Krug. „Es hat 48 Jahre gedauert, bis wir einen Bürgermeister der Freien Wähler durchgebracht haben“, folgerte Aigner. Das war 2018 Marlene Greinwald.

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Kustermannpark, Karpfenwinkel, Sportplatzgelände, Traubing und Vieles mehr

Aigners Rede bei diesem Festempfang wurde zu einem Überblick über wichtige Tutzinger Aspekte, Ereignisse und Projekte in dieser langen Zeit. So erwähnte er den Kauf des Kustermannparks und der Kustermannvilla sowie deren Erhalt, den Ankauf von Grünflächen im Karpfenwinkel, die heute unter Naturschutz stehen, den Kauf der Grundstücke und die Anlage des Waldfriedhofs an der Kustermannstraße oder den Erwerb des Sportplatzgeländes sowie den Bau des Würmseestadions.

Auf viele weitere Themen wies er hin: das erste Einheimischenmodell am Schorn mit 27 Parzellen, den Erwerb der Gründstücke am Kallerbach zusammen mit dem Zweckverband sozialer Wohnungsbau (heute Verband Wohnen), den Kauf des Tutzinger Kellers, den Neubau der Hauptschule, der vor Sanierung und Neukonzeption stehenden heutigen Mittelschule, eigenständige Wasser- und Abwasseranlagen, den Park-and-Ride-Platz, die Eingemeindung Traubings mit der schwierigen Zusammenführung von Flächennutzungsplänen und Verhandlungen mit Eigentümern und den Buttlerhof, „damit die Traubinger die Aufgabe der Selbstständigkeit besser verschmerzen konnten“.

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Midgardhaus - die "schönste Niederlage" des Altbürgermeisters

Tiefe Einschnitte brachten laut Aigner später der Wegfall des größten Tutzinger Gewerbesteuerzahlers Boehringer-Mannheim/Roche und die „völlig unerwartete Explosion der Kosten beim Gymnasiumsbau“. Tutzing sei zu einer Gemeinde geworden, „die jede Mark und später jeden Euro zweimal umdrehen musste“. Zudem sei eine neue sehr kostspielige Aufgabe hinzugekommen: Neue Kindergarten- und Kindertagesplätze mussten geschaffen werden. „Eine Aufgabe, die viel zu spät angegangen wurde“, fügte er hinzu. Tutzing sei die erste Gemeinde im Landkreis Starnberg gewesen, die - zusammen mit Boehringer-Mannheim – eine Kinderkrippe eingerichtet habe.

Auch die Auseinandersetzungen über ein Hotelprojekt auf dem Grundstück des Midgardhauses in den 1970er Jahren fehlten nicht in Aigners Übersicht. Nur bei diesem Vorhaben des Steigenberger-Konzerns in den 1970er Jahren hätten die Freien Wähler leidenschaftlich opponiert, angeführt von einem Mitglied der FDP-Fraktion, dem Tutzinger Arzt Dr. Roeckl. Leclaire sagte dazu beim Empfang, dies sei seine "schönste Niederlage" gewesen. Er hat einmal gestanden, dass er heute bei den Gegnern der damals von ihm verfolgten Hotelpläne wäre. So ändern sich die Zeiten.

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