Gemeindeleben
25.11.2022
Von vorOrt.news

Im rechtsfreien Raum

Spendenaktion „Tutzing hilft im Mittelmeer“ geht in die dritte Runde - Bisher mehr als 130 000 Euro

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Informationen, die unter die Haut gingen: Claudia Steinke vom Ökumenischen Unterstützerkreis (links) konnte in Tutzing Josephine Liebl von der Organisation ECRE begrüßen © L.G.

Schier nicht fassen konnten viele, was sie am Dienstabend im Tutzinger Roncallihaus zu hören bekamen. Dort fand zur dritten Runde der Spendenaktion „Tutzing hilft im Mittelmeer“ die Auftaktveranstaltung statt - mit Informationen, die unter die Haut gingen.

Eigens nach Tutzing gekommen war Josephine Liebl von der Organisation ECRE, einem Zusammenschluss von 108 Zivilorganisationen (NGO) in 39 europäischen Ländern, der sich für Schutz und Rechte von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Vertriebenen einsetzt. Sie sprach von einem „rechtsfreien Raum an den EU-Außengrenzen“. Die EU-Kommission versuche mit einer neuen Verordnung, die Standards zu senken und Rechtsbrüche gutzuheißen.

Die Tutzinger Spendenaktion hat bisher in zwei Runden mehr als 130 000 Euro eingebracht. Getragen wird die Aktion vom Ökumenischen Unterstützerkreis mit der evangelischen und der katholischen Kirche und von der Gemeinde Tutzing. Claudia Steinke, die Vorsitzende des Unterstützerkreiseas, war sichtlich stolz über die finanziellen Ergebnisse der ersten beiden Runden. Bürgermeisterin Marlene Greinwald forderte: „Wir müssen von unserem Wohlstand etwas abgeben.“ Sie verwies darauf, dass mit einer größeren Flüchtlingswelle als 2015 zu rechnen sei. Auch Kommunen wie Tutzing müssten alle nutzbaren Flächen zur Verfügung stellen.

Wie ehrenamtliche Helfer von den Regierungen behindert werden

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Hochengagiert in der Hilfe für geflüchtete Menschen sind (oben von links) Martina Chamrath, Dr. Maria Möller, (unten von links) Dietmar Enderlein und Claus-Peter-Reisch © L.G.

Über die Verteilung der Spenden entscheidet eine Jury. Das bisher eingegangene Geld haben verschiedene Hilfsorganisationen erhalten. so „Medical Volunteers“, „Lesbos Solidarity“, „Starfish Foundation“, „Land Aid“, „Drei Musketiere Reutlingen“ oder „SOS Mediterranée“. Mehrere von ihnen waren am Dienstag in Tutzing mit Vertretern dabei, und sie bestätigten mit sehr persönlichen Erfahrungen viele Missstände.

„Viele Flüchtlinge haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung“, sagte die Augsburger Ärztin Dr. Maria Möller, die sich seit Jahren bei den „Medical Volunteers“ engagiert und bereits zum dritten Mal in Tutzing dabei war. Bei den noch auf der Insel Lesbos verbliebenen Flüchtlingen sei vielfach intensive psychische Betreuung erforderlich. Sie berichtete über Mitarbeiter aus der ganzen Welt, die sich freiwillig und ehrenamtlich um die Menschen kümmerten, während sich andere einen Spaß daraus machten, die Flüchtlinge zu quälen und psychisch fertig zu machen.

Martina Chamrath von der Organisation „Sea-eye“, die Flüchtende aus seeuntüchtigen Booten im Mittelmeeer rettet, befürchtet, dass große Missionen überhaupt nicht mehr finanziert werden können. Denn es habe einen Spendeneinbruch um rund 30 Prozent gegeben, wohl wegen der verbreiteten Ängste durch Krieg, Energiekrise, Inflation und aus anderen Gründen. Anfang Dezember soll eine neue Mission zur libyschen Küste starten: „Aber mit der neuen Regierung in Italien ist die Situation noch schwieriger geworden - wir dürfen nicht an Land.“

Am Rande erzählte Dietmar Enderlein aus Erding von seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Maschinist auf dem Rettungsschiff „Alan Kurdi“ vor zwei Jahren. Damals hat er geholfen, 133 Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Das habe 14 Stunden gedauert - aber dann sei das Schiff überall abgewiesen worden: in Lampedusa, Malta, Sizilien, Sardinien Süd. Mehr als acht Tage habe es gedauert, bis alle endlich an Land durften.

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Ein alter Reisebus soll zu einem rollenden Klassenzimmer werden

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Noch nie zuvor einen Buntstift gesehen haben die meisten der Kinder, denen die Organisation von Claus-Peter Reisch zu Schulunterricht verhilft © Organisation Claus-Peter Reisch - Hilfe für Menschen in Not gGmbH

Am Dienstag mit in Tutzing dabei war auch wieder Claus-Peter Reisch, der selbst als Schiffsführer bei Missionen der Seenotrettung bekannt geworden ist. Der Landsberger hat die Tutzinger Spendenaktion mit begründet und war bisher auch Mitglied der Spendenjury, die er aber wegen seiner mittlerweile gegründeten eigenen Organisation, für die er sich finanzielle Hilfe durch die Tutzinger Aktion erhofft, verlassen hat. Mit seiner neuen Initiative engagiert er sich für den Schulunterricht von Kindern in der Türkei. Viele von ihnen, sagte er, hätten noch nie einen Buntstift gesehen, und alle seien begeistert von dem ihnen bisher völlig unbekannten Bildungsangebot. „Man muss schauen, dass sich die Menschen nicht auf den Weg machen müssen“, sagte er, „aber ohne Schulbildung ist alles nichts.“ Der aktuelle Plan: Reisch will mir seiner neuen Organisation „Claus-Peter Reisch – Hilfe für Menschen in Not gGmbH“ einen ausgedienten Reisebus kaufen und ihn zu einem „rollenden Klassenzimmer“ machen. Das gute Stück soll etwa 45 000 Euro kosten. Zusammen mit Partnern will Reisch in den nächsten drei Jahren etwa 400 syrischen Flüchtlingskindern Schule näherbringen.

Die großenteils sehr persönlichen Erlebnisse sorgten am Dienstag im Roncallihaus noch lange für Diskussionen. „Man könnte heulen, wenn man das Leid sieht“, sagte Tutzings katholischer Pfarrer Peter Seidel. Sichtlich irritiert waren viele nach dem Bericht von Josephine Liebl. Sie leitet bei der Organisation ECRE den Bereich „Advocay“, der sich um politische Einflüsse bemüht, dabei aber auf hohe Hürden stößt. Von der Vorgehensweise gerade an den europäischen Außengrenzen vermittelte sie einen verheerenden Eindruck. Europas Glaubwürdigkeit gehe an seinen Grenzen verloren - so hatte sie ihren Vortrag überschrieben. Regelrecht entsetzt berichtete sie über den aktuellen Vorstoß der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten im Falle einer „Instrumentalisierung“ von Asyl und Migration eine Abweichung von ihren Verpflichtungen nach dem Asylrecht zu erlauben.

"Für Europa sollen die Menschenrechte in bestimmten Situationen nicht mehr gelten"

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Das Seenotrettungsschiff „Alan Kurdi“, benannt nach einem 2015 ertrunkenen syrischen Zweijährigen, durfte 2020 nach der Rettung von 150 Menschen den Hafen von Palermo lange nicht verlassen. Wegen finanziell starker Belastungen aufgrund andauernder Festsetzungen der Rettungsschiffe in Italien hat sich die Organisation Sea-Eye im vorigen Jahr von diesem Schiff getrennt. Seitdem konzentriert sie sich auf Rettungseinsätze mit der „Sea-Eye 4“. © Sea-Eye e.V., Regensburg

„Alle Versuche, die Mitgliedstaaten anzuhalten, das Asylrecht einzuhalten, werden durch diesen Gesetzesvorstoß torpediert“, kritisierte sie. Schon jetzt hielten etliche EU-Mitgliedsstaaten das Recht nicht ein. Rechtswidrige Praktiken beklagte sie in Österreich, Bulgarien, Kroatien, Zypern, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Italien, Malta, Polen, Rumänien, Slowenien, Spanien, Serbien, der Türkei und Großbritannien. Schiffe mit Geretteten bekämen oft keine Erlaubnis, Häfen anzulaufen. Die Kommission versuche die Rechtsbrüche von Mitgliedsstaaten quasi nachträglich zu legitimieren. Wenn die EU-Mitglieder die vorgegebenen Standards nicht einhielten, dann würden sie eben gesenkt.

Fehlende Einhaltung der Standards sei das größte Defizit des Europäischen Asylsystems GEAS, monierte Liebl. Besser wäre nach ihrer Überzeugung gar keine Reform als eine solche, die zu niedrigeren Standards führe. Zwar soll nach ihren Worten geregelt werden, unter welchen Umständen die Länder die geltenden Standards senken dürfen. Doch diese Umstände seien so weit gefasst, dass Regierungen von Mitgliedsstaaten schon in ganz normen Situationen behaupten könnten, sie würden instrumentalisiert. So beispielsweise, wenn Flüchtlinge versuchten, außerhalb der offiziellen Grenzübertritte ins Land zu gelangen: Dann könnten die Regierungen folgern, sie dürften aus diesem Grund die Menschenrechte und das geltende EU-Recht aussetzen.

Josephine Liebl erwartet, dass in Zukunft wohl manche Regierung dauernd auf Ausnahmesituationen verweisen werde. Das könne zu einem permanenten Ausnahmezustand an den EU-Außengrenzen führen, fürchtet sie. Und wenn für Europa die Menschenrechte in bestimmten Situationen einfach nicht mehr gelten würden, dann würden viele andere Länder dies nachahmen. Diese Verordnung hätte nicht nur Folgen für Europa, warnte sie, sondern sie stelle das globale Recht auf Schutz in Frage. Liebl fordert, dass sich die deutsche Bundesregierung klar gegen den Vorschlag der EU-Kommission stellt. Die neuen Regeln würden auch die Gefahr von illegalen Push-Backs und weiteren Menschenrechtsverletzungen verstärken, befürchtet sie. Es sei zu hoffen, dass es während der laufenden Legislaturperiode der Kommission, die noch bis Mai 2024 andauert, zu keiner Einigung kommen werde, dass eine neue Kommission dann stärker menschenrechtlich orientiert auftreten und den Vorschlag zurückziehen werde.

Tutzing hilft im Mittelmeer

Spendenjury

Marlene Greinwald, Bürgermeisterin in Tutzing
Florian Schotter, Gemeinderat
Beate Frankenberge, evangelische Pfarrerin
Peter Seidel, katholischer Pfarrer
Alea Horst, Aktivistin
Claudia Steinke, Koordinatorin Helferkreis Tutzing

Die Spendenkonten

Kontoinhaber: Gemeinde Tutzing
IBAN DE92 7025 0150 0430 5700 44
Verwendungszweck: „Tutzing hilft im Mittelmeer“

Kontoinhaber: Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Tutzing-Bernried
IBAN DE21 7025 0150 0010 5808 19
Verwendungszweck:„Tutzing hilft im Mittelmeer“

​Kontoinhaber: Katholische Kirchenstiftung St. Joseph
IBAN DE19 7025 0150 0017 0509 49
Verwendungszweck:„Tutzing hilft im Mittelmeer“

​Im Fall von Spenden über 200 Euro stellen die Kontoinhaber eine Spendenquittung aus. Voraussetzung dazu ist, dass Spender ihre Postadresse im Verwendungszweck der Überweisung mit angeben. 

Spende auf der Internet-Plattform::
https://www.betterplace.org/de/projects/115277-tutzing-hilft-im-mittelmeer-spendenaktion-2022-23
Die Spendenquittung kommt dann von dort direkt. 

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In allen Vorträgen wurde deutlich, welche Not die Geflüchteten leiden: Die aus dem Meer Geretteten dürfen in den Häfen nicht an Land, die Flüchtlinge auf der ‚Balkan-Route‘ werden in Lagern festgesetzt, auf griechischen Inseln und in der Türkei.
Diese Abschottung ist von allen Regierungen gewollt: Geflüchteten Menschen wird die Aufnahme in Europa verweigert.
Laut Dublin-3-Abkommen ist der jeweilige Einreisestaat für die Aufnahme zuständig, also alle Staaten an den europäischen Außengrenzen. Und solange Deutschland – als Staat in der Mitte – auf seiner Sonderrolle beharrt, haben die Geflüchteten keine Chance, in Europa aufgenommen zu werden.
In unserer Verfassung hat die ‚Menschenwürde‘ den höchsten Rang: „Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Diesen Auftrag haben 2019 einzelne Gemeinden verstanden, haben sich im Städtebündnis „Sichere Häfen“ zusammengeschlossen und der Bundesregierung ihre Bereitschaft zur Aufnahme der Geflüchteten erklärt, die unter menschenunwürdigen Verhältnissen in Grenzlagern abgeschottet werden. Doch der Innenminister hat als zuständiger Fachminister der Bundesregierung die Einreise nicht erlaubt. Inzwischen ist das Bündnis auf 316 Partner angewachsen, fast alle Großstädte sind beigetreten, auch die Gemeinde Tutzing, leider als einzige im Landkreis.
Unsere neue Regierung hatte einen Paradigmenwechsel angekündigt, hat ihn aber bis heute nicht umgesetzt, weder für die Asylbewerber in Deutschland noch für die Flüchtlinge in den Grenzlagern noch für die im Mittelmeer Geretteten. Wenn die Seenotretter in Italien nicht anlegen dürfen, weil Italien dann zuständig wäre, warum erklärt unsere Bundesregierung nicht ihre Bereitschaft zur Aufnahme, nachdem so viele Städte dazu bereit sind?
Es geht doch offenbar ganz anders, aber nur mit den Flüchtlingen aus der Ukraine. Sie erhalten ein Bleiberecht, ohne Asylantrag, dürfen arbeiten, werden finanziell unterstützt
Und da es jeweils um Menschenrechte geht: Hat ein Kriegsflüchtling aus Syrien weniger Würde als der aus der Ukraine?
Unsere Regierung sollte also nicht auf eine europäische Lösung warten, sondern sofort handeln. Dann könnten wir zum Vorbild in Europa werden, diesmal nicht wirtschaftlich, sondern humanitär.

Ernst von der Locht
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