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"Als Bürgermeister durfte ich viele überzeugte Europäer umarmen"

Mit einem eindringlichen Plädoyer für Weltoffenheit und Gastfreundlichkeit hat Tutzings Altbürgermeister Dr. Alfred Leclaire bei der Lichterkette am Mittwoch für Aufmerksamkeit gesorgt. Wir veröffentlichen seine Rede, die er vor der Pfarrkirche St. Joseph gehalten hat, hier im Wortlaut:

"Ein Zeichen gegen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit"

Wir Alle sind hierhergekommen, um ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen für ein weltoffenes Land, ein Zeichen für eine solidarische Gesellschaft, ein Zeichen gegen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit! Mit allen Bürgern unseres Landes dürfen wir stolz darauf sein, in einer staatlichen Ordnung zu leben, welche die unantastbare Würde aller Menschen und die Gleichheit aller Menschen als Garantien an den Anfang ihres Verfassungstextes gestellt hat. Weder unterschiedliche Herkunft und Sprache, noch unterschiedliche politische und regligiöse Überzeugungen dürfen als Begründung für eine ungleiche Behandlung von bei uns lebenden Menschen durch Organe des Staates dienen. Wir dürfen ebenso stolz darauf sein, dass dieser Staat sich eingeordnet hat in ein europäisch-überstaatliches System von Institutionen und Regeln, die wirksam gewährleisten, dass wir Europäer seit 73 Jahren in Frieden leben dürfen und ein solch friedliches Miteinander auch in Zukunft erwarten dürfen.

Als Angehöriger des Jahrgangs 1935 fühle ich mich besonders dazu aufgerufen, diese deutschen und europäischen Errungenschaften zu preisen, weil ich gleichzeitig mit ihnen ein erwachsener Mensch und zugleich deutscher und europäischer Bürger geworden bin. Es waren mutige und zukunftsorientierte Menschen, die nach den Erfahrungen mit einem totalitären System und seinen Verbrechen aus den Trümmern eines von Deutschland begonnenen Krieges die beste staatliche Ordnung geschaffen haben, die unser Land je besessen hat. Und es waren mutige und zukunftsorientierte Menschen aus unseren Nachbarländern, die uns Deutsche trotz der Vorgeschichte wieder in den Kreis zivilisierter Nationen aufgenommen haben. Als Bürgermeister durfte ich viele solcher überzeugten Europäer in Frankreich und Ungarn beim Entstehen unserer Städtepartnerschaften umarmen. Und als Mitglied eines Rotary Clubs durfte ich dann auch zahlreiche italienische und polnische Nachbarn in die Arme schließen.

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Freunde in Frankreich: Dr. Alfred Leclaire (li.) 1975 mit seinem Amtskollegen aus Tutzings französischer Partnergemeinde Bagnères-de-Bigorre, André de Boysson © Archiv Gemeinde Tutzing
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"Trotz vieler Geduldsproben sind wir begeisterte Europäer geblieben"

Vielen von diesen meinen heutigen europäischen Freunden ging es wie mir selbst mit dem gemeinsamen Europa nicht schnell genug voran. Wir mussten lernen, uns in Geduld zu üben, weil in solch stolzes Projekt wie der Einigungsprozess eines Kontinents von Staaten mit eigener Geschichte und Verfassung, mit Bürgern unterschiedlichster religiöser und politischer Überzeugungen, unterschiedlicher Sprache und Kultur, unterschiedlicher sozialer und landsmannschaftlicher Herkunft viel Zeit braucht und Geduld erfordert. Er braucht viel mehr Zeit, als wir uns das als junge Schüler- und Studenten-Heißsporne vorstellen konnten, die Freude daran gefunden haben, dass junge Menschen unserer Generation in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Europa herbeizwingen wollten, indem sie Schlagbäume zwischen ihren Ländern zerstört haben. Trotz vieler Geduldsproben sind wir begeisterte Europäer geblieben, die das Verbindende in den Vordergrund rücken und in der Zukunft immer mehr zu einem politischen Ganzen formen wollen.

In unseren Köpfen hat ängstliche Abschottung hinter nationalen Grenzen keinen Platz. Unserem Denken ist auch die Abgrenzung gegenüber Menschen fremd, die aus anderen Ländern zu uns kommen und in unserem Lande leben und sich als Mitbürger in Würde entwickeln wollen. Unser alterndes Land in der geografischen Mitte Europas braucht solche Zuwanderer, so wie es sie schon immer gebraucht und zu guten Mitbürgern geformt hat. Ich wünsche mir und uns Allen von diesem Ort aus, dass etwas von der Leidenschaft und der Aufbruchstimmung des jungen Nachkriegsdeutschland und des jungen Europa erhalten bleiben und auch in die Zukunft hinein wirken möge! Ich möchte auch weiterhin in einem weltoffenen und gastfreundlichen Lande leben und weiß mich mit Allen darin einig, die heute an dieser Lichterkette teilnehmen!

Dr. Alfred Leclaire

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Dr. Alfred Leclaire war von 1970 bis 1996 Bürgermeister von Tutzing. Der gebürtige Aachener und Tutzinger Ehrenbürger war zuvor seit 1965 Dozent an der Akademie für politische Bildung gewesen. Heute widmet sich der Vater zweier Söhne und Großvater von fünf Enkeln leidenschaftlich der Musik. In mehreren Formationen spielt er auf vier Tasteninstrumenten, die in seinem Haus stehen: Cembalo, Spinett, Clavichord und Klavier. Seine Frau Irmi wirkt oft als Cellistin mit.



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Quelle Titelbild: L.G.
ID: 436
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