In Tutzing gab es schon Planungen für „Coworking“. Der Begriff steht für neue Arbeitswelten: Hier stehen Schreibtische oder ein paar Büros zur Verfügung, die man mieten kann, dort größere Flächen oder ganze Etagen. Alles möglichst flexibel, unkonventionell, weit weg von herkömmlichen Büro-Traditionen. Das Konzept für den neuen Dreiecksbau an der Tutzinger Bräuhausstraße war ursprünglich eine Mischung aus einem „Aparthotel“ und Coworking-Arbeitsplätzen. Das ist Schnee von gestern. Aus dem „Aparthotel“ wird bekanntlich nichts, stattdessen soll eine private Burnout-Klinik ins Dreieck einziehen. Aber die Coworking-Idee blüht weiter.
Geeignet für leer stehende Immobilien wie für Neubauten
Die Starnberger Wirtschaftsfördergesellschaft gwt setzt offenkundig hohe Erwartungen in solche Konzepte. Das hat sie kürzlich mit einer eigens organisierten Bustour zu vier „Coworking-Spaces“ in Gilching, Wörthsee, Herrsching und Dießen am Ammersee belegt. Die Organisatoren sehen für solche Einrichtungen in der hiesigen Region noch viele weitere interessante Potenziale. „Je ländlicher, umso wichtiger ist die gesellschaftliche Funktion von Coworking, um Orte neu zu beleben“ - davon zeigen sie sich überzeugt.
Kreativ und innovativ genutzt werden könnten so beispielsweise bestehende Räume wie ehemalige Schulen, leer stehende Bankfilialen, Bahnhöfe, Bibliotheken, Gerichtsgebäude, Polizeistationen oder alte Krankenhäuser. Auch auf dem ehemaligen Tutzinger Roche-Gelände, für das dieser Tage ein Hotelprojekt aufgetaucht ist, könnten Coworking-Pläne durchaus zu den immer neuen Visionen gehören.
"Coworking-Spaces sind ein Hype geworden"
Rundherum scheinen solche Einrichtungen jedenfalls förmlich aus dem Boden zu sprießen. Die vier von der gwt mit einem gelben Oldtimer-Bus besuchten Stationen stellen nur eine kleine Auswahl dar. Weithin bekannt ist zum Beispiel das Murnauer „Innovationsquartier“ in einem ehemaligen kommunalen Krankenhaus.
„Coworking-Spaces sind ein Hype geworden“, sagt Marc Schlüpmann. Er ist Vorsitzender einer Genossenschaft, die das „Ammersee Denkerhaus“ in Dießen trägt, eines der bekanntesten Coworking-Angebote in der hiesigen Gegend. „Arbeite, wo du arbeiten möchtest“ - diese Formulierung gefällt Hans-Peter Sander, einem der Mitgründer des Ammersee-Denkerhauses, besonders. Er ist sich sicher: „Die Leute arbeiten besser, wenn sie sich wohlfühlen.“ Als wesentliche Triebfedern für die Veränderungstendenzen beim Arbeiten erweisen sich dabei neue Entwicklungen und Techniken. Gerade die Digitalisierung erlaubt es erst, Arbeitsorte und auch Arbeitszeiten individueller zu gestalten.
Aus den Ursprüngen ist die Coworking-Idee allerdings längst herausgewachsen. Die Grundidee wird dabei wohl nicht immer konsequent verfolgt. Das hängt auch mit recht unterschiedlichen Anforderungen zusammen - je nachdem, ob es um Selbstständige, Kreative oder Existenzgründer geht, um mittelständische Unternehmen, um ganze Firmen-Abteilungen oder Projektteams.
"Bringt es wirklich etwas, sich den Weg zum Büro in der Stadt zu sparen?"
Alle möglichen Bürovermieter befassen sich bespielweise inzwischen mit dem Coworking, immer mehr größere Unternehmen dominieren das Angebot, von „WeWork“ bis „Rent24“. Bei „WeWork“ kann man an mehr als 400 Standorten je nach Mitgliedschaft beliebige Schreibtische und Rollcontainer, eigene Schreibtische oder abschließbare Büros bekommen. Zusätzlich gibt es „Common Areas“ mit Sofas, Eventbereiche, Konferenzräume und „unbegrenzten Konsum von Kaffee, Tee, Milch, Wasser, Wasser mit frischen Früchten und frisch gezapftem Bier“.
Ein Konzentrationsprozess in dieser Branche sorgt darüber hinaus für Größenballungen. Rent24, ein Anbieter mit bald 100 Standorten auf drei Kontinenten, hat zum Beispiel den Mehrheitsanteil an der in München ansässigen Friendsfactory AG übernommen, die mit derartigen Konzepten arbeitet. Sogar große Konzerne verschließen sich dieser Entwicklung nicht. Der Münchner Siemens-Konzern unterhält bereits sechs „Coworking-Spaces“, entwickelt von seiner eigenen Immobilien-Gesellschaft Siemens Real Estate. Sie sind allerdings eigentlich nur für Mitarbeiter des Konzerns gedacht. Die Münchner Flughafengesellschaft baut unterdessen mit einem Coworking-Ansatz einen „LabCampus“ aus, der Innovationen in den Vordergrund stellen soll.
In Tutzing und vielen anderen Orten der hiesigen Region können die meisten Leute nicht viel mit dem Begriff „Coworking“ anfangen. Und oft genug hört man skeptische Fragen: Wozu einen Schreibtisch mieten, wenn man doch im Homeoffice arbeiten kann? Bringt es wirklich etwas, sich den Weg zum Büro in der Stadt zu sparen und stattdessen am Wohnort neben unbekannten Gesichtern aus ganz anderen Branchen zu arbeiten?
Die vier Stationen: alvea, Impact Plaza, Institut für Form und Farbe, Denkerhaus
Die Starnberger Wirtschaftsförderer kennen all diese Zweifel. Das war wohl auch einer der wesentlichen Gründe für die von ihnen organisierte Bustour. Etwa 35 geladene Gäste haben teilgenommen: Bürgermeister, Kreisräte, kreative Freiberufler, Architekten, Unternehmer. Die Stationen waren alvea workspace in Gilching, Impact Plaza in Wörthsee, das Institut für Form und Farbe in Herrsching sowie das Denkerhaus in Dießen.
Daniela Tewes, Regionalmanagerin bei der gwt, sieht viele Gründe für Coworking. So ermöglichten solche Konzepte wohnortnahe Arbeit, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können. Wesentlich seien derartige Angebote auch in Hinblick auf Mobilität und Nachhaltigkeit: Man reduziere den Pendlerverkehr in Richtung Landeshauptstadt und entlaste die Infrastruktur. Arbeiten also in Tutzing oder in einem anderen Ort der Region rund um Starnberger See und Ammersee statt des täglichen Staus auf den Straßen - für die Verfechter der Idee ein Vorteil für die Umwelt ebenso wie für die Wirtschaft.
170 Euro monatlich für einen Arbeitsplatz
Die Initiatoren des Ammersee-Denkerhauses sehen Pendler sogar als besonders interessante künftige Zielgruppe: Wenn Unternehmen in einer Region etliche Mitarbeiter haben, könnten sie für diese in so einem Gebäude Büros mieten, bestimmte Tätigkeiten dorthin auslagern - und die betreffenden Beschäftigten würden täglich viel Fahrtzeit sparen. „Der Chef hat ein besseres Gefühl, wenn er weiß, dass seine Mitarbeiter in einem Büro sitzen und nicht daheim auf dem Sofa“, sagt Axel Praus. Er hat 2017 im Ammersee-Denkerhaus die Firma Workingwell gegründet, mit der er - inzwischen von München aus - ein verwandtes Thema bearbeitet: Er entwickelt „Arbeitswelten“ für Unternehmen.
Vorteile durch Coworking werden auch besonders für junge Unternehmen auf der Suche nach günstigen und flexibel nutzbaren Arbeitsplätze gesehen. Marc Schlüpmann beispielsweise hat für den Webseitengestalter SMP, zu deren Miteigentümern er gehört, im „Ammersee Denkerhaus“ drei Arbeitsplätze gemietet. Kostenpunkt: für jeden von ihnen 170 Euro, zusammen 510 Euro Warmmiete einschließlich Strom und Internet. „Keine Abschreibung auf die Möbel“, sagt er, „keine Sorge, ob die Technik funktioniert, keine Reparaturen.“ Eine Küche ist vorhanden, ebenso eine Küche, ein Besprechungsraum mit Beamer und ein Rückzugsraum.
Austausch mit Mitarbeitern anderer Branchen als Quelle der Inspiration
Hauptargumente für die Coworking-Idee sind auch stets Kommunikation und interdisziplinäre Aspkete: der so ermöglichte Austausch mit Mitarbeitern aus anderen Branchen und Unternehmen als Quelle der Inspiration und zur Erweiterung der Netzwerke. Man trifft Menschen aus ganz anderen Berufen, man weitet den Blick, man kommt auf neue Ideen.
Recht gut scheint dies im Murnauer „InnovationsQuartier“ zu funktionieren. Dort sind bereits etwa 65 Mieter tätig. Dienstleister für Rückholtransporte von Krankenversicherten sind ebenso darunter wie Anbieter für die Filmproduktion oder Programmierer, Produktdesigner und Werbeagenturen. Ein Startup entwickelt in Murnau neue Mobilitätsangebote für den ländlichen Raum. Auf viel Interesse stößt ein von Gemeinde, Unternehmern und örtlichen Schulen initiiertes so genanntes „MakerLab“. Das Labor für Macher ist hochinnovativ ausgerüstet: mit 3D-Drucker, elektronischem Syntheziser, Jugendprogrammiergruppe, Fotostudio, Lasercutter, Elektronik-, Siebdruck-, Holz-, Textil- und Medienwerkstatt.
Innovationsquartier mit Kinderkrippe und Senioren-Unterstützung
„Wir brauchen Innovation und frische Impulse“, sagt die Starnberger Wirtschaftsfördererin Annette von Nordeck, „gerade in Zeiten des demografischen Wandels.“ Sie bezeichnet es als essenziell, besonders junge und kreative Leute in der Region zu halten. Kommunen und kleinere Städte bieten nach ihrer Auffassung oft mehr und günstigeren Raum als die enge Großstadt. Zugleich seien die Wege kürzer und die Kontakte persönlicher. Die Starnberger Wirtschaftsförderer geben sich überzeugt: „Die Zukunft liegt nicht nur in der Hand von großen Konzernen - Innovation kann genauso in einem Hinterhof im Umland entstehen.“
Im Murnauer Innovastionsquartier gibt es mittlerweile sogar eine Kinderkrippe. „Wir müssen akzeptieren“, sagt der dortige Wirtschaftsförderer Jan-Ulrich Bittlinger, „dass die Arbeitszeiten nicht um 16.30 Uhr oder gar mittags enden wie manche Kindergärten.“ Auch Senioren binden etliche Coworking-Anbieter ein, so zum Beispiel mit Hausmeisterdiensten. Coworking kann also sozusagen sogar Generationen-übergreifend sein.
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