Gemeindeleben
31.12.2020
Von Alexander von Wurmbrand-de Brenco

"Menschen sollten einander mit Respekt begegnen"

Interview mit Pfarrer Udo Hahn, dem Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing

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Was hat die heutige Kommerz- und Konsum-Weihnacht noch mit dem biblischen Hochfest, Christi Geburt zu tun? Wozu eigentlich noch Weihnachten? Das fragt unser Autor Alexander von Wurmbrand-de Brenco im Interview Udo Hahn, den Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing. Das Gespräch spannt einen weiten Bogen. Auf die sexuellen Missbräuche geht Hahn ebenso ein wie auf „antijüdische Spitzen“ im Neuen Testament oder eine sinkende Bereitschaft, mit Andersdenkenden den Dialog zu suchen. Der Akademiedirektor mahnt: „Generell sollten Menschen einander mit Respekt begegnen.“

Alexander von Wurmbrand-de Brenco: Guten Tag Pfarrer Hahn, dem breiten Publikum sind Sie durch die Evangelischen Morgenfeiern im BR bekannt, den Tutzingern vorOrt auch als Akademiedirektor der Evangelischen Akademie Tutzing. Nächstes Jahr feiern Sie Jubiläum, Sie stehen diesem Haus dann zehn Jahre vor. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?

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Mehr Ideen, als in ein Jahresprogramm passen: Was 2021 möglich ist, muss sich erst noch zeigen © Evangelische Akademie

Pfarrer Hahn: Schon zehn Jahre! Für mich fühlt es sich nicht so an. Schon beim fünfjährigen Jubiläum erinnere ich mich an ein Innehalten. Was sind schon fünf Jahre. Und jetzt sind es auf einmal zehn. Die Zeit, so scheint es, vergeht wie im Flug. Das liegt auch daran, dass bei uns kein Mangel an Ideen herrscht und dass auch in Politik und Gesellschaft so viel in Bewegung ist.

A.v.W-deB: Diese Ideen werden dann in das Bildungsprogramm umgesetzt.

Pfarrer Hahn: Ja, wobei wir mehr Ideen haben, als sich in einem Jahresprogramm realisieren lassen. Meine Kolleginnen und Kollegen sind sehr kreativ, in ihrem jeweiligen Bereich gut vernetzt und haben die Hand am Puls des Zeitgeschehens. Darüber hinaus sind wir regelmäßig im Austausch mit unserem Kuratorium, das uns berät.

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"Es besteht die Gefahr, dass aus dem Blick gerät, was wir Weihnachten eigentlich feiern"

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Pfarrer Udo Hahn im Schlosshof der Evangelischen Akademie © L.G.

A.v.W-deB: Wozu eigentlich noch Weihnachten? Was hat die heutige Kommerz- und Konsum-Weihnacht noch mit dem biblischen Hochfest, Christi Geburt zu tun?

Pfarrer Hahn: Das ist tatsächlich die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen. Viele Menschen überlegen, wie sie Weihnachten feiern. Was muss es alles an Leckereien geben? Wer bekommt welches Geschenk? Und ist der Weihnachtsbaum makellos? Das mag jeder gerne für sich entscheiden. Nur besteht die Gefahr, wenn ich mich ständig mit dem Wie beschäftige, dass aus dem Blick gerät, was wir Weihnachten eigentlich feiern. Wir feiern, dass Gott Mensch geworden ist, dass er von den himmlischen Höhen herabgestiegen ist, um es in diesem Bild zu sagen, dass er in einem kleinen Kind in der Krippe zur Welt kommt. Und das ist alles andere als ein Weihnachtsidyll mit Goldrand. Da ist eine Hochschwangere mit ihrem Mann unterwegs. Überall werden sie abgewiesen und finden schließlich Unterkunft in einem Stall. Und kaum ist das Kind geboren, müssen diese Menschen fliehen, weil andere ihnen nach dem Leben trachten.

Gott wendet sich der Welt zu und nicht von ihr ab. Und diese Solidarität schulden wir unseren Mitmenschen.

Die Verkündigung der Engel beginnt mit den Worten: „Fürchtet euch nicht“, das heißt, sie ist für Menschen in einer Situation, in der Angst und Furcht dominieren, mit wenig Aussicht, dass sich etwas grundlegend ändert. Das waren Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten. Gott wird mit uns solidarisch. Er durchlebt und durchleidet all das – im positiven wie im negativen Sinne, was uns widerfährt. Gott wendet sich der Welt zu und nicht von ihr ab. Und diese Solidarität schulden wir unseren Mitmenschen.

"Konsum ist nicht per se negativ - aber die Ressourcen unseres Planeten sind begrenzt"

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Pfarrer Udo Hahn stellt die Frage, ob wir uns alles, was wir uns leisten können, auch leisten dürfen © eat-archiv

A.v.W-deB: Die Werbeindustrie würde sagen: Fürchtet euch nicht vor ungebremstem Konsum!

Pfarrer Hahn: Konsum ist nicht per se negativ. Die Ressourcen unseres Planeten sind aber begrenzt. Es ist daher die Frage, ob wir uns alles, was wir uns leisten können, auch wirklich leisten dürfen. Unser aktueller Lebensstil ist nicht nachhaltig. Wir wissen das seit den 1970er Jahren, als der Club of Rome von den Grenzen des Wachstums sprach. Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.

A.v.W-deB: Diese Weihnacht ist wegen der Corona-Pandemie etwas Besonderes. Familien, aber auch Freunde – wenn keine Familie vorhanden – können nicht in gewohnter Weise zusammenkommen und werden Heilig Abend allein verbringen. Wie trösten wir diese Menschen?

Wichtig ist das Signal: "Ich bin für dich da! "

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Trösten können nicht nur gesprochene Worte: Impressionen aus der Evangelischen Akademie © eat / L.G.

Pfarrer Hahn: Trösten ist ein vielschichtiger Prozess. Dabei geht es nach meiner Erfahrung weniger um ein Machen, sondern um eine Unterstützung zum Aushaltenkönnen. Menschen finden Trost, indem sie sich darauf verlassen können, dass jemand da ist, den ich anrufen kann, der mir zuhört. Deshalb ist es wichtig, Menschen genau dies zu signalisieren: Ich bin für dich da! Das gilt für Krisenereignisse jeder Art. Trösten können nicht nur gesprochene Worte, sondern auch gelesene: die biblischen Texte, die Advents- und Weihnachtslieder im katholischen Gotteslob und im Evangelischen Kirchengesangbuch. Eine weitere Hilfe kann das gesungene Wort sein – wenn ich zum Beispiel das Weihnachtsoratorium höre und mir dazu eine Kerze anzünde.

A.v.W-deB: Woran liegt es, dass Weihnachten so oft scheitert? Am selbstgemachten Druck eines erfüllten Festes? Ist uns der familiäre Gemeinschaftssinn abhandengekommen – halten wir die gegenseitigen Spannungen zu wenig aus?

Weihnachten wäre eigentlich eine gute Gelegenheit runterzukommen, wenn jeder sich von dem Kind in der Krippe anstrahlen lässt.

Pfarrer Hahn: Weihnachtszeit ist Krisenzeit, weil sie mit Erwartungen so hoch aufgeladen ist. Alles soll, ja muss perfekt sein. Da ist das Scheitern programmiert. Der Gemeinschaftssinn scheint mir in unserer Gesellschaft nicht abhandengekommen, ganz im Gegenteil. Aber Weihnachten treffen Menschen aufeinander, die vielleicht das ganze Jahr keinen Kontakt miteinander hatten. Oder im Streit miteinander liegen und bisher keinen Weg gefunden haben bzw. finden, diesen zu klären. Da braucht es oft nur ein Wort und die Situation gerät außer Kontrolle. In vielen Familien wird kaum mehr gestritten als an Weihnachten. Weil man eben wechselseitig Erwartungen aneinander hat, die kaum erfüllbar sind. Weihnachten wäre eigentlich eine gute Gelegenheit runterzukommen, wenn jeder sich von dem Kind in der Krippe anstrahlen lässt.

Wenn die Bitte um Verzicht als inakzeptable Einschränkung der Freiheit interpretiert wird

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Die Kirche ist eine Gemeinschaft: Udo Hahn mit Gästen von nah und fern in seinen Tutzinger Jahren. Die Namen stehen unten auf dieser Seite. © eat / L.G.

A.v.W-deB: Und wie steht es um die gemeinschaftliche Dimension der Kirche? Sind wir nur mehr uneingeschränkte Individualisten?

Pfarrer Hahn: Die Kirche ist eine Gemeinschaft – mit allen Stärken und Schwächen. Vor Pauschalurteilen will ich mich im Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt aber hüten. Neben viel Gemeinsinn gibt es natürlich auch viel Egoismus. Das ist aktuell gerade in der Corona-Debatte immer wieder zu beobachten, dass Menschen die Bitte, jetzt auf dieses und jenes zu verzichten, als inakzeptable Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit interpretieren. Dabei könnte viel Unheil abgewendet werden, wenn der Maßstab wäre, sich an den Schwachen zu orientieren. Weniger ICH und mehr WIR würde helfen. Das ist ein Empfinden, das viele längst im Alltag leben. Davon ist das ganze ehrenamtliche Engagement geprägt – in Tutzing vielfältig und in jeder Hinsicht vorbildlich.

A.v.W-deB: Vermutlich wird sich nur ein Teil der Leser unser Gespräch bis zum Ende durchlesen, weil das Mobiltelefon schon die Ankunft der nächsten Nachricht signalisiert. Sind wir noch in der Lage, die frohe Botschaft anzunehmen?

Pfarrer Hahn: Selbstverständlich sind Menschen dazu in der Lage. Das ist weder eine Frage des Intellekts noch der Gemütsverfassung.

"Die ständige Verfügbarkeit ist das Problem"

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Ein Ort auch zum Innehalten: Park der Evangelischen Akademie © eat-archiv

A.v.W-deB: Pfarrer Hahn, ich hätte eine Bitte, lassen Sie uns 60 Sekunden lang schweigen
(beide schweigen - liebe Leser machen Sie bitte mit!).

A.v.W-deB: Das war jetzt nur eine Minute. Viele Menschen können heute aber gar nicht mehr innehalten, von kontemplativen Erfahrungen will ich gar nicht reden. Woran liegt es, dass wir ständig irgendwelche Dinge machen müssen und nicht zur Ruhe kommen?

Pfarrer Hahn: Es gibt einfach so viel Interessantes, was meine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Unser Leben scheint dennoch aus dem Gleichgewicht zu geraten, weil wir so vieles erleben und so viele Ablenkungsmöglichkeiten haben – und nicht abschalten können. Jeder hat den eigenen Computer in der Hosentasche und ist in dem Augenblick, in dem er ihn in die Hand nimmt, praktisch mit der ganzen Welt verbunden. Das lässt einen kaum zur Ruhe kommen. Wir können ja nicht nicht kommunizieren.

A.v.W-deB: Dieses Axiom hat der Psychologe Paul Watzlawick formuliert.

Pfarrer Hahn: Was eigentlich ein nützliches Instrument sein will, hat bei unsachgemäßem Gebrauch erhebliche Nebenwirkungen. Bestenfalls schalten wir in den Stand-by-Modus. Eigentlich müssten wir öfter die Aus-Taste betätigen. Die ständige Verfügbarkeit ist das Problem, dass ich nicht abschalten kann. Auch hier haben wir kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.

Es stimmt ja nicht, dass alles schlechter wird. Das Gegenteil ist der Fall, wenn wir auf die Fortschritte allein in der Medizin schauen.

"Respekt ist Voraussetzung für jeden Dialog"

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Selbst diese Tonfigur von Hilde Würtheim im Hof der Akademie trägt zurzeit eine Maske © L.G.

A.v.W-deB: Die ständige Verfügbarkeit will ich hinterfragen. Birgt das nicht die Gefahr der Maßlosigkeit?

Pfarrer Hahn: Schon in der Bibel wird die Gier als eine der Todsünden bezeichnet. Meine Großmutter hat immer gesagt: „Alles zu viel ist von Übel.“ Da ist was dran – ohne in eine Pauschalkritik oder in eine kulturpessimistische Sicht verfallen zu wollen. Es stimmt ja nicht, dass alles schlechter wird. Das Gegenteil ist der Fall, wenn wir auf die Fortschritte allein in der Medizin schauen.

A.v.W-deB: Machen wir es uns zu einfach, die Menschen, die sich radikalisiert haben oder in Gefahr sind sich zu radikalisieren, als beispielsweise Covidioten oder Demokratieunfähige darzustellen? Nehmen wir sie zu wenig als Individuen - mit allen ihren Zukunftsängsten wahr? Und wie sollte ein angemessener Dialog aussehen?

Pfarrer Hahn: Generell sollten Menschen einander mit Respekt begegnen. Das ist die Voraussetzung für jeden Dialog. Wir diskutieren seit ein paar Jahren, dass sich in unserer Gesellschaft Echokammern und Filterblasen bilden. Eigentlich gab es das schon immer, wenn ich an den Stammtisch denke. Und dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied, dass heute diese Echokammern und Filterblasen deutlicher abgeschlossener sind, als es Stammtische – nach meinem Eindruck – je waren oder sind.

Die Frage ist, wie kommen wir mit denen, die anderer Meinung sind, ins Gespräch?

Die Frage ist, wie kommen wir mit denen, die anderer Meinung sind, ins Gespräch? Darüber denken wir in der Akademie ständig nach. Viele Menschen teilen die Erfahrung, dass sie am liebsten mit jenen zusammen sind, mit denen sie ohnehin schon auf einer Wellenlänge liegen. Wir merken aber, dass bei der Klärung der großen Fragen auch mit denen der Dialog gesucht werden muss, die komplett anderer Meinung sind. Meine Sorge ist, dass genau dieses Gespräch immer weniger gelingt.

"Die Notwendigkeit, Kompromisse zu schließen"

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Zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen sollte es keine Tore geben: Eingangsbereich der Evangelischen Akademie © L.G.

A.v.W-deB: Ich bin der Allwissende, nur meine Wahrheit gilt.

Pfarrer Hahn: Ja, wer so reagiert, der erwartet auch keine Antwort. Wenn Menschen fragen: Habe ich Sie richtig verstanden? Oder: Sie behaupten dies und das, ich sehe das aber ganz anders. Dann gibt es eine Möglichkeit, darauf zu reagieren. Das wäre Dialog. Dann kann man am Ende sagen: Das überzeugt mich nicht. Aber vielleicht habe ich einen Aspekt aufgenommen, der mein eigenes Weiterdenken inspiriert. Wir reden heute von Wahrheit im Plural. Daraus folgt die Notwendigkeit, Kompromisse zu schließen.

A.v.W-deB: Der Kompromiss trägt eine Demokratie.

Pfarrer Hahn: So sehe ich es. Und er gibt uns die Möglichkeit, nächste Schritte zu gehen und wieder innezuhalten.

"Hinschauen müssen wir dort, wo in unserer Gesellschaft etwas falsch läuft"

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"Auf das Gelingen zu schauen, ist notwendig": Die Evangelische Akademie im Schloss Tutzing © eat-archie

A.v.W-deB: Sie haben einmal gesagt: „Lassen Sie uns mehr auf das schauen, was gelingt und weniger auf das, was nicht gut läuft.“ Wer Sie kennt, weiß, dass Sie damit nicht an Wegsehen denken. Kürzlich haben Sie sich in einer Zeitung ungewöhnlich klar gegen Antisemitismus, Homophobie und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – besonders auch in den eigenen Reihen – ausgesprochen. Was hat Sie dazu bewogen und welche Reaktionen hat das hervorgerufen?

Pfarrer Hahn: Auf das Gelingen zu schauen, ist notwendig, denn dadurch entsteht ein psychologischer Effekt: Ich bekomme Mut und Hoffnung. Hinschauen müssen wir natürlich genau dort, wo in unserer Gesellschaft etwas falsch läuft.

Wenn man evangelisch ist und sich mit Martin Luther beschäftigt, stößt man unweigerlich auf seine Haltung gegenüber Juden, die menschenverachtender nicht sein kann.

Wenn man evangelisch ist und sich mit Martin Luther beschäftigt, stößt man unweigerlich auf seine Haltung gegenüber Juden, die menschenverachtender nicht sein kann. Eine Kirche, die sich auf Luther beruft, muss damit umgehen und sich – wie mehrfach schon geschehen – entschieden distanzieren.

"Die Kirche muss in ihren eigenen Reihen mehr tun, um Antisemitismus zu bekämpfen"

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"Jede kirchliche Einrichtung muss sich mit dem Antisemitismus befassen": Udo Hahn mit Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, beim Akademie-Neujahrsempfang 2019 © L.G.

Tatsächlich gibt es viel Judenfeindschaft und Antisemitismus in der Welt, der seine Wurzeln auch in den Kirchen hat. Das Neue Testament enthält antijüdische Spitzen, die bis heute ihre negative Wirkung entfalten. Statistiken sagen, dass in unserer Gesellschaft zehn bis zwanzig Prozent oder gar noch mehr Menschen Vorurteile gegenüber Juden haben. Die Kirche ist Teil der Gesellschaft – also ist anzunehmen, dass diese Vorurteile auch dort anzutreffen sind. Untersuchungen über die evangelische Kirche – auf sie beziehe ich mich – bestätigen diese Vermutung. Das kann niemanden gleichgültig lassen. Hier sind enorme Anstrengungen erforderlich, um diesem Übel an die Wurzel zu gehen. Dazu braucht es Bildung. Und zur Bildung gehört die Begegnung. Da unternimmt die Kirche viel. Die Frage ist, ob diese Bemühungen an der Basis ankommen. Hier sind Zweifel angebracht.

Das Neue Testament enthält antijüdische Spitzen, die bis heute ihre negative Wirkung entfalten.

Deshalb habe ich dazu aufgerufen, dass sich jede kirchliche Einrichtung, jeder Kirchenvorstand mit dem Thema befasst. Die Reaktionen fielen wie erwartet aus. Neben viel Zustimmung gab es auch Rückmeldungen, die mich darin bestätigen, dass die Kirche in ihren eigenen Reihen mehr tun muss, um Antisemitismus zu bekämpfen. Das gilt im Blick auf alle, die von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit betroffen sind: z.B. Muslime, Homosexuelle, Obdachlose – die Liste ist lang.

"Wer hasst, ist nicht an einem Dialog interessiert"

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Für Hass gibt es keine Rechtfertigung, sagt Udo Hahn © pixabay

A.v.W-deB: Und es gibt in der virtuellen Welt noch einen entscheidenden Unterschied. Die Echokammer des Stammtischs endet zumeist an der Wirtshaustür. Im Netz erreiche ich Gleichgesinnte bis am anderen Ende der Welt und das in Sekundenschnelle.

Pfarrer Hahn: Ja, diese Gefahr besteht.

A.v.W-deB: Wenn man sich die Kommentarspalten von Online-Posts ansieht, hat das nichts mit einem gegenseitig respektvollen Umgang mehr zu tun. Wie erklärt sich dieser Hass und die ungehemmte Wut? Warum ist es so schwierig, sich differenziert auseinanderzusetzen?

Pfarrer Hahn: Hass ist keine Meinung. Wer hasst, ist nicht an einem Dialog interessiert. Übrigens machen viele Politikerinnen und Politiker diese Erfahrung, dass Menschen – etwa bei öffentlichen Versammlungen ihre Wut herausschreien, dann aber den Raum verlassen und nicht mehr auf die Rückmeldung des Angesprochenen warten. Wie soll da Dialog entstehen. Für Hass gibt es keine Rechtfertigung, weil er anderen Menschen abspricht, dass auch sie etwas Konstruktives beitragen könnten.

"Die Kirche muss sich fragen lassen, ob ihre Strukturen übergriffiges Handeln begünstigen"

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Die evangelische Kirche als Reeder: Darstellung im Eingangsbereich der Akademie © L.G.

A.v.W-deB: Die evangelische Kirche ist zum Reeder geworden. Was bitte hat ein Kirchenschiff im Mittelmeer zu suchen?

Pfarrer Hahn: Mit einem Rettungsschiff Not lindern zu wollen, ist Ausdruck exemplarischen Handelns. Auch die Kirche kann das Problem nicht lösen, aber dennoch etwas tun.

A.v.W-deB: Es sind mittlerweile zwei.

Pfarrer Hahn: Und vielleicht kommen noch weitere Schiffe dazu. Die Kirche versteht sich als Teil einer weltweiten Allianz der Hilfsbereiten und trägt ihren Teil dazu bei.

A.v.W-deB: Im November tagte die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Dabei stachen zwei Themen besonders heraus: Turnusgemäß wechselte der Sprecher des „Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“. Weshalb hat der Außenstehende den Eindruck, dass sich die Evangelische Kirche mit der Aufarbeitung in den eigenen Reihen so schwer tut? Mir kommt da immer das Bild von den Eltern in den Sinn, die ihrem Kind moralische Regeln beibringen wollen und das Kind merkt, dass die Eltern den eigenen Ansprüchen nicht genügen.

Macht wird kontrolliert auch in der Kirche, selbstverständlich. Und dennoch ist auch dieses System nicht perfekt. Es müssen aber aus den Fehlern die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Pfarrer Hahn: Die Evangelische Kirche tut sich wie alle anderen schwer. Es scheint mir eine Mischung aus Scham und Entsetzen, wie so etwas in der Kirche überhaupt passieren konnte, was eigentlich nie hätte geschehen dürfen. Wenn ich mir vorstelle, dass Menschen, die Schutz brauchen und sich der Kirche anvertrauen und nicht nur keinen Schutz bekommen, sondern in dieser Weise traumatisiert werden durch Erlebnisse sexueller Gewalt, Prügelstrafen etc., dann ist das ein Vertrauensverlust, für den ich mich erst einmal schäme. Ich frage mich, wie das in der Kirche möglich war. Ich halte es für viel zu einfach, zu sagen, auch in der Kirche arbeiten „nur“ Menschen. Und die sind eben fehlbar. Die Kirche muss sich auch fragen lassen, ob ihre Strukturen derart übergriffiges Handeln begünstigen – und wie dies künftig verhindert werden kann.

"Ich wünsche mir, dass Schuld früher eingestanden wird"

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Aus den Fehlern müssen die richtigen Schlüsse gezogen werden, mahnt Pfarrer Udo Hahn © L.G.

A.v.W-deB: Beginnt das Unrecht der Kirche ab dem Zeitpunkt, wenn sie davon Kenntnis bekommt, solche Fälle dann deckt und sich nicht um restlose Aufklärung bemüht?

Pfarrer Hahn: Die Schuld der Kirche fängt viel früher an, dass sie es nicht hat verhindern können. Dass es in dieser Struktur möglich war. Wir reden hier von Verantwortung und von Machtkontrolle. Macht wird kontrolliert auch in der Kirche, selbstverständlich. Und dennoch ist auch dieses System nicht perfekt. Es müssen aber aus den Fehlern die richtigen Schlüsse gezogen werden.

A.v.W-deB: Geht die Kirche mit ihrer Schuld richtig um?

Pfarrer Hahn: Ich bin kein Experte in der Missbrauchsdebatte. Was ich aber wahrnehme: dass Betroffene sich nicht angemessen behandelt fühlen. Und meist Jahrzehnte warten müssen, bis ihre Anspruchsberechtigung anerkannt wird. Dies war vor kurzem ja auch in einem ganz anderen Fall zu sehen: Vierzig Jahre nach dem Oktoberfest-Attentat wurden erst jetzt Entschädigungsleistungen für die Opfer freigegeben. Generell wünsche ich mir, dass Schuld früher eingestanden wird.

"Ohne Bildung geht in der Kirche gar nichts"

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Die Evangelische Akademie wird bleiben - da ist sich Pfarrer Udo Hahn sicher © L.G.

A.v.W-deB: Ein weiterer Punkt waren die Finanzen. Die Kirche muss dringend sparen, bis zum Jahr 2030 allein 17 Millionen Euro! Und die Landeskirche weist in diesem Jahr voraussichtlich einen Fehlbetrag von 130 Millionen aus. Gehen in der Akademie bald die Lichter aus und Sie waren der letzte Direktor hier?

Pfarrer Hahn: Ein doppeltes Nein! Die Kirche kann nur das Geld ausgeben, was sie einnimmt. Und anders als der Staat kann und will sie keine Schulden machen.

Die Evangelische Akademie Tutzing war nach dem Zweiten Weltkrieg eine echte Innovation. Sie wurde geschaffen, um einen Ort zu schaffen, an dem die unterschiedlichen Kräfte der Zivilgesellschaft um die Klärung der zentralen Herausforderungen ringen können. Diese Aufgabe und Orte dieser Art werden in Zukunft sogar noch wichtiger.

Vor diesem Hintergrund überlegt die Kirche sehr genau, wofür sie ihr Geld ausgibt. Die Evangelische Akademie Tutzing war nach dem Zweiten Weltkrieg eine echte Innovation. Eine solche Einrichtung gab es vorher nicht. Sie wurde geschaffen, um einen Ort zu schaffen, an dem die unterschiedlichen Kräfte der Zivilgesellschaft um die Klärung der zentralen Herausforderungen ringen können. Diese Aufgabe und Orte dieser Art werden in Zukunft sogar noch wichtiger. Es ist genau diese Einsicht, die die EKD-Synode jetzt dazu führte, das Thema Bildung neu zu bewerten – als Querschnittsaufgabe ihres gesamten Handelns. Bildung steht nun gleichrangig neben Verkündigung, Seelsorge und Diakonie. Zugespitzt lässt sich sagen: Ohne Bildung geht in der Kirche gar nichts.

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"Eine solche Einrichtung gab es vorher nicht": Die Evangelische Akademie mit ihrem Park direkt am Starnberger See ist ein Magnet für viele Besucher

" Ich sehe den medizinischen Fortschritt ausgesprochen positiv"

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Im März 2020 war's noch möglich: Die Präsidenten der Mobilclubs ADAC und ADFC, Dr. August Markl und Bernadette-Juliane Felsch, waren in der Akademie-Rotunde zu Gast bei Udo Hahn (am Podium von links) © L.G.

A.v.W-deB: Ab dem 27. Dezember wird in Deutschland gegen das Corona- Virus geimpft. Viele Meschen sind verunsichert, ob sie sich impfen lassen. Hier geht ein Riss durch Gesellschaft und nicht selten durch die eigene Familie. Welchen Gedanken können Sie uns mit auf den Weg geben?

Pfarrer Hahn: Mit Beginn der Pandemie setzten auch die Bemühungen ein, wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Wie schon gegen eine „normale“ Grippe, so wird, wie die Medizin erwartet, ein Impfstoff ein, vielleicht sogar das wirksamste Mittel zur Bekämpfung von Corona sein. Es gibt Krankheiten, gegen die ich mich impfen lassen kann – Masern, Windpocken, Kinderlähmung. Erst unlängst habe ich eine Impfauffrischung gegen Tetanus erhalten. Ich sehe den medizinischen Fortschritt hier ausgesprochen positiv.

A.v.W-deB: Und ihr Rat?

Pfarrer Hahn: Impfstoffe helfen, Krankheiten zu bekämpfen. Eine Impfpflicht besteht aber nicht. Da muss jeder in eigener Verantwortung entscheiden.

A.v.W-deB: Pfarrer Hahn, wie werden Sie Weihnachten verbringen?

Pfarrer Hahn: Meine Frau und ich sind Zuhause. Ansonsten waren wir immer unterwegs – meine Schweigermutter hat an Heilig Abend Geburtstag. Diesmal werden wir uns Zeit für ausführliche Telefonate nehmen – und mit den Neffen und Patenkindern skypen. Wir wollen diese besondere Zeit nutzen, auch selber mal Weihnachten anders zu feiern, als das in der Vergangenheit der Fall war. Mit mehr Ruhe und Muße. Darauf freuen wir uns schon.

A.v.W-deB: Herzlichen Dank für das Gespräch, Pfarrer Hahn! Die vorOrt.news wünschen Ihrer Frau und Ihnen eine gesegnete Weihnacht.

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*) Obere Reihe: Links mit Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, rechts mit Brigitte Grande, der Vorsitzenden des Akademie-Freundeskreises, und Radiomoderator Thorsten Otto
Mittlere Reihe: Links mit Hollywood-Starregisseur Oliver Stone, in der Mitte mit Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, rechts mit Tutzings katholischem Pfarrer Peter Brummer
Untere Reihe: von links Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischof in Bayern, der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, Florian Herrmann, Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn und Udo Hahn

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Der Autor: Alexander von Wurmbrand-de Brenco

ID: 3525
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Alexander von Wurmbrand-de Brenco

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Kommentare

Chapeau und vielen Dank an die beiden Herren - das ist Kirche der heutigen Zeit, die uns auch zum Nachdenken bringt, was die Pandemie vielleicht deutlich machen will - nämlich eventuelle Übersetzungsfehler in den alten Schriften, aus denen z.B. zitiert wird: macht Euch die Erde untertan, und nicht, "bewahret meine Schöpfung", oder auch im VaterUnser "und führe uns "nicht" in Versuchung, denn es sollte bedeuten, und führe uns in der Versuchung auf den richtigen Ausweg, wie das ein gütiger und barmherziger Gott machen würde. Diese Zitate stammen wohl aus dem alten Testament, das Neue Testament und die Bergpredigt sollten im Fokus stehen. Wir beten doch zu einem gütigen und barmherzigen Gott, . Generell empfinde ich das jetzige Geschehen als einen ernsthaften Appell an uns alle, nachzudenken über unser Verhalten und unsere Einstellung, denn jede/r einzelne sollte dazu beitragen..
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