Wirtschaft
26.9.2023
Von vorOrt.news

"Unternehmen sind allein auf weiter Flur"

FDP fordert mehr Berücksichtigung der Wirtschaft - Kritik wegen gescheitertem Wohnbau bei W.A.F.

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"Unser Mittelstand ist das Rückgrat unserer Gesellschaft": Paul Friedrich und Britta Hundesrügge bei Lobster-Chef Dr. Martin Fischer (von links)

Großen Bedarf für eine stärkere Berücksichtigung der lokalen Wirtschaftsinteressen sieht die Tutzinger FDP. Mehrere Mitglieder der Partei haben in jüngerer Zeit verschiedene in dieser Gegend ansässige Unternehmen besucht, so W.A.F. in Kampberg, Lobster im Tutzinger Bahnhofsviertel, Steinmüller und PackSys in Wieling. „Eine Hauptsorge der hiesigen Unternehmen ist der stark zunehmende Arbeitskräftemangel", sagt die FDP-Ortsvorsitzende Dr. Julia Levasier. Es sei deshalb die richtige Entscheidung gewesen, mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz den Zuzug für qualifizierte Fachkräfte zu erleichtern.

„Unser Mittelstand ist das Rückgrat unserer Gesellschaft: Er schafft Arbeitsplätze, treibt unsere Innovationskraft voran und finanziert unser Gemeinwesen zu großen Teilen“, sagt die stellvertretende Starnberger Landrätin und FDP-Landtagskandidatin Britta Hundesrügge. Bei einem von der Partei organisierten Unternehmenstalk auf der Dachterrasse des neuen Lobster-Hauptquartiers sind viele Probleme deutlich angesprochen worden. Die lokale Wirtschaft sei noch nicht auf der politischen Agenda, sagte Julia Levasier bei diesem Treffen. „Die Unternehmen sind allein auf weiter Flur“, fügte sie kritisch hinzu: „Es gibt bei uns tolle Unternehmen, aber es wandern mehr ab, als kommen - und die, die da sind, laufen nebenher.“

Auch der Fraktionsvorsitzende der FDP im bayerischen Landtag, Martin Hagen, nahm an dem Treffen in Tutzing teil, ebenso Britta Hundesrügge. Mit Blick auf die Landtagswahl am 8. Oktober brachte Hagen einen breiten Überblick über die wirtschaftlichen Vorhaben der bayerischen FDP, von den Forderungen nach Bürokratieabbau und weniger Dokumentationspflichten für Unternehmen über die Bildung bis zur Digitalisierung.

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Die Gemeinden sollten mehr örtliche Handwerksbetriebe beauftragen, forderten (von links) Martin Hagen, Paul Friedrich, Britta Hundesrügge und Cédric Muth von der FDP bei einem Treffen auf der Dachterrasse des Lobster-Gebäudes in Tutzing
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"Dass immer der billigste Anbieter den Zuschlag erhalten muss, ist falsch"

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Tutzinger Bauprojekte: Haben örtliche Betriebe bei der Straßensanierung, bei der Mittelschule und anderen großen Vorhaben Chancen?

Letztlich beherrschten aber sehr konkrete und lokale Themen die Diskussion. Der frühere Tutzinger FDP-Vorsitzende Michael Klein verwies kritisch auf die Ausschreibungen öffentlicher Projekte wie etwa der Straßenbauten in Tutzing.

Dass angeblich immer der billigste Anbieter den Zuschlag erhalten müsse, sei falsch, sagte Klein. Auch bei einer Informationsveranstaltung im Tutzinger Rathaus zur Sanierung der Ortsdurchfahrt hatte der beauftragte Verkehrsplaner Benjamin Neudert auf konkrete Fragen zur allgemeinen Überraschung behauptet, der billigste Anbieter müsse bei der Ausschreibung für die Straßenarbeiten im Ortszentrum den Zuschlag erhalten. Nach den vergaberechtlichen Vorschriften ist der Zuschlag aber nicht auf das billigste Angebot, sondern auf das „wirtschaftlichste“ Angebot zu erteilen (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Paragraf 127). Tatsächlich erhält jedoch in der Vergabepraxis zumeist der billigste Anbieter den Zuschlag.

Lokale Anbieter haben bei größeren Projekten oft wenig Chancen

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Für eine stärkere Berücksichtigung der lokalen Wirtschaft plädieren Britta Hundesrügge und Paul Friedrich

Auf Bieterseite gebe es gewiefte Fachleute, sagte Klein: „Die wissen genau, wo die Schlupflöcher sind und wie sie später über Nachbesserungen ihren Etat erhöhen können.“ Dies gilt als einer der wesentlichen Gründe für die oft eklatanten Kostensteigerungen gerade bei öffentlichen Bauprojekten. So kämen häufig beispielsweise osteuropäische Firmen zum Zuge, sagte Klein, während lokale Anbieter aus der hiesigen Gegend kaum Chancen hätten.

Jochen Twiehaus, Inhaber eines Tutzinger Architektur- und Ingenieurbüros, relativierte dies etwas – seiner Meinung nach seien „spektakuläre Nachträge“ nicht die Regel. Früher hätten üblicherweise die örtlichen Handwerker Aufträge erhalten, sagte Britta Hundesrügge. Die Gemeinden müssten unbedingt wieder mehr die Handwerksbetriebe aus ihrer Gegend beauftragen. Dies werde sich auch positiv auf die Qualität auswirken.

Paul Friedrich, stellvertretender Tutzinger FDP-Ortsvorsitzender, Mitglied im Kreisvorstand der Starnberger FDP und Vorsitzender des Tutzinger Jugendbeirats, verwies auf viele 18- bis 24-Jährige, die ohne Arbeit und ohne Ausbildung seien. „Wir müssen verhindern, dass junge Menschen die Schule abbrechen“, mahnte Britta Hundesrügge. Es gehe darum, erst einmal Interesse für verschiedene Berufe zu wecken. Als sehr hilfreich dabei bezeichnete sie den jährlichen Tag der Ausbildung, an dem die Starnberger Wirtschaftsfördergesellschaft gwt mit jungen Leuten aus den Schulen Rundfahrten zu zahlreichen Unternehmen in der hiesigen Region unternimmt, auch im November wieder am Buß- und Bettag. https://www.starnbergammersee.de/leben-arbeiten/ausbildung/tag-der-ausbildung

Gescheitertes Wohnungsbauprojekt in Kampberg: "Absurd"

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Wohnbau gescheitert: W.A.F-Chef Christian Lütgenau (links) sprach mit Dr. Wolfgang Weber-Guskar und Britta Hundesrügge von der FDP © Fotos: FDP Tutzing / L.G.

Der Begriff Leistung sei mittlerweile eher verpönt, sagte Britta Hundesrügge: „Wir sind eine Gesellschaft, die den Begriff Leistung gar nicht mehr in den Mund nimmt.“ Man dürfe nicht immer nur nach dem Staat rufen. Bei der Erziehung hätten auch die Elternhäuser eine wesentliche Aufgabe. Das Leistungsbewusstsein spiele auch dort nicht mehr die selbe Rolle wie vor zehn oder fünfzehn Jahren, bestätigte der Tutzinger Gemeinderat Dr. Joachim Weber-Guskar. „Wir brauchen einen Mentaliltätswechsel, dass sich Leistung lohnt“, betonte auch Hagen. Er weitete diese Thematik auch auf die Schulen aus: „Sie sollten sich ihre Lehrer selbst aussuchen können.“ Nicht alle Lehrer müssten Beamte sein, es könne auch ein Angestelltenverhältnis sein.

Zu den Forderungen der FDP gehört auch eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Britta Hundesrügge, selbst berufstätige Mutter von drei Kindern, kennt die alltäglichen Herausforderungen von Familien und betont, dass „ sich beispielsweise kein vergleichbares Industrieland ein Schulsystem leistet, das um 13 Uhr endet.“ Als zu starr empfindet die FDP auch das Baurecht. Die Anforderungen an die Bauwerber seien zu hoch. „Um günstiger und schneller bauen zu können, muss man runter mit der Bürokratie und hoch mit der Digitalisierung unserer Verwaltung", sagt Paul Friedrich. Denn es sei absurd, wenn Wohnungsbauprojekte an der starren Baunutzungsverordnung scheiterten, so wie es in Kampberg der Fall gewesen sei, und Bauwerber seitenlange und realitätsferne Gutachten erstellen müssten. Wohnungsbau in Kampberg gescheitert „Das kostet Zeit und Geld", kritisiert Friedrich, "und das können wir uns in Zeiten akuten Wohnungsmangels nicht leisten.“ Zum Thema Bürokratie gab es beim Wirtschaftstreffen auf der Dachterrasse von Lobster aber auch verständnisvolle Äußerungen für die Zuständigen. So sagte der Architekt Martin Büscher: „Das System ist nicht so böse."

Mehr zum Thema:
Die ignorierte lokale Wirtschaft

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Ach, und einen Nachsatz noch zum selben Thema. Der Jugendbeirat und die JM hatten vor einigen Tagen im Kino eine Veranstaltung zur Vorstellung der Landatskandidaten organisiert, bei der Britta Hundesrügge für die FDP mit Vertretern der CSU, der GRÜNEN und der ÖDP auf dem Podium saß. Die Kandidatinnen und Kandidaten waren zur Bildungspolitik gefragt, woraufhin Frau Hundesrügge als Ziel ihres Wirkens gleiche Bildungschancen in Bayern nannte. Ich meldet mich darauf und sagte, dass die Studienlage zu dem Thema eindeutig sei: Der Bildungserfolg hänge überwiegend mit dem Einkommen der Familie zusammen, in der das Kind aufwachse. Schon sechs Monate nach der Geburt laufe der IQ von Kindern mit guter und mit schlechter ökonomischer Ausstattung auseinander. Bei Schuleintritt haben Kinder aus wohlhabenden Familien bereits einen Bildungsvorteil, der (in der heutigen bayerischen Bildungslandschaft) für die anderen Kinder unmöglich einzuholen ist. Ein ökonomisch großzügig abgesichertes Leben sorgt also dafür, dass der IQ-Wert (der nicht mit der Intelligenz im weiteren Sinne gleichzusetzen ist) in der Kindheit deutlich stärker ansteigt.

Mit anderen Worten: Würde Frau Hundesrügge tatsächlich gleiche Bildungschancen für alle Schüler in Bayern anstreben, dann müsste sie ihre Partei davon überzeugen, neben der Aktivierung der ausgesetzten Vermögenssteuer die Einkommenssteuer für Gutverdienende kräftig anzuheben und die eingesetzten Mittel in den Ausbau des Bildungs- und Betreuungssystems zu investieren. Ihr Parteikollege, der Bundesfinanzminister, vollzieht gerade das exakte Gegenteil davon.
Es ist gut, dass sich in Tutzing überhaupt jemand für das Thema Wirtschaft interessiert und den Unternehmen zugehört wird. Das ehrt diese schillernde FDP-Truppe. Nur, muss das denn wirklich immer die FDP sein? Sie ist schon deshalb eine ungeeignete Vertretung von Wirtschaftsinteressen, weil sie Privilegien meint, wenn sie über Leistung spricht. Die inneren Widersprüche der FDP bei diesem Thema lassen sich am obenstehenden Text sehr schön herausarbeiten:

Britta Hundesrügge sagt, den Elternhäusern komme bei der Erziehung eine wesentliche Aufgabe zu. Schule dürfe nicht um 13:00 Uhr enden, aber man dürfe auch nicht immer nach dem Staat rufen. Hmm, und schon hier passt nichts mehr zusammen. Denn wer sollte dafür zuständig sein, die Schulzeit in den Nachmittag zu verlängern, wenn nicht der Staat? Aus gutem Grund stellt die Schule eine hoheitliche Aufgabe dar. Und natürlich kostet so ein Vorhaben Geld, das aus Steuermitteln finanziert sein will. Wobei sich die FDP im Bund konsequent gegen Steuererhöhungen und den Abbau von Subventionen wehrt, von denen besonders ihre Klientel profitiert. Das führt dazu, dass im Endeffekt in Familien ein Elternteil zuhause bleiben und sich um die Schulbegleitung kümmern muss. Was schon mal für alleinerziehende Eltern nicht funktionieren kann, die immerhin 18 Prozent aller Familien ausmachen.

Wenn der eine Elternteil oder beide Eltern arbeiten müssen, bleibt nur die Möglichkeit, den erzieherischen Aufwand an bezahlte Nannys zu delegieren, man lässt Nachhilfelehrer ins Haus kommen, schickt die Kinder in Ferien-Intensivkurse, Privatschulen oder in Internate. Was man sich natürlich leisten können muss. Und das gelingt schwerlich, wenn man nicht mit einem ordentlichen Vermögen gesegnet ist. Vermögen werden in Deutschland in den seltensten Fällen erarbeitet, stattdessen wandern sie von Generation zu Generation. Je höher das Erbe ausfällt, desto geringer wird es in der Praxis besteuert. Wobei unmittelbar einleuchtet, dass Erben ein leistungs- und anstrengungslos erworbener Zugewinn ist, von dem nur ein kleiner Anteil aller Nachkommen profitiert. Und weil die FDP sich, zum Wohle ihrer vermögenden Wählerschaft, mit allen Mitteln gegen eine zeitgemäße Anpassung der Vermögens- und der Erbschaftssteuer einsetzt, lügt sie sich und uns mit ihrem Leistungsbegriff ziemlich frech in die Tasche.

Außerdem brauchen wir einen Mentaltätswechsel, ganz richtig. Aber ganz und gar nicht den, den FDP-Mann Martin Hagen fordert. Stattdessen muss, zum Beispiel im Leistungswettbewerb der Schule, die systematische Bevorzugung derer aufhören, die durch ihre Vermögen erheblich verbesserte Startchance mitbringen. Standesprivilegien in einen Zusammenhang mit dem Begriff der Leistungsbereitschaft zu stellen, das ist schon ziemlich unverfroren. Und diese Idee folgt der unter Reichen weit verbreiteten Illusion, ihr Erfolg gehe auf eigene Anstrengungen zurück. Die soziologische Forschung spricht hier eine klare Sprache und erklärt Wohlstand und Reichtum so: Sie sind das Ergebnis 1. vermögender Eltern, 2. gut entwickelter Netzwerke/Seilschaften und 3. zahlreicher Zufälle.

Vor dem Hintergrund ist es so zynisch wie frech, den Verlierern des gesellschaftlichen Verdrängungswettbewerbs mit sehr ungleich verteilten Startchancen immer und immer wieder einen Mangel an Leistungsbereitschaft zu unterstellen. Diese Kaltschnäuzigkeit gelingt nur denen, die systematisch Forschungsergebnisse negieren und sich in der Lebenswirklichkeit der Menschen nicht auskennen, weil die Blase des eigenen Geldadels nie verlassen wurde. Dass sie mit dem Dreschen schräger Phrasen den Rechtspopulisten in die Hände spielen, macht die Sache ganz besonders problematisch.
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