Umwelt
2.7.2023
Von Silke Heuschmann

Verzicht auf‘s Verzichten? Gute Sache!

Beim 5. Klimasalon ging es um den Begriff des Verzichts: Notwendigkeit, Chance oder komplett überflüssig?Die Autorin engagiert sich bei der Initiative "Tutzing klimaneutral 2035"

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Geht das? An einem lauen Sommerabend in großer Runde im schönen Tutzing zu sitzen, zu diskutieren, zu genießen – und dann über Verzicht reden? Doch, das geht, sehr gut sogar und im vollen Bewusstsein, wie gut es uns hier in Tutzing geht.
Wenn die Initiative ,Tutzing Klimaneutral 2035‘ zu ihren Klimasalons einlädt, lässt sich immer etwas lernen und dabei bestens über besondere Themen diskutieren. Nachdem es in den letzten Salons unter anderem um den Einfluss unserer Ernährung aufs Klima ging, um Märchen, die sich mit unserem Bild der Natur befassen, um unsere Gefühle in der Klimakrise, war das Thema diesmal das Verzichten.

Warum sollen wir denn überhaupt verzichten? Und worauf?

Klar ist: Wir haben nur eine Erde und verbrauchen viel mehr. In diesem Jahr war schon am 4. Mai der sogenannte ,Earth Overshoot Day‘: der Tag, ab dem wir als Gesellschaft bereits alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht hatten, die unsere Erde innerhalb eines Jahres erneuern kann. Seitdem leben wir über unsere Verhältnisse und verbrauchen mehr, als uns eigentlich zur Verfügung steht, sei es beim Bauen, Reisen oder Konsumieren. Verzichten, den Konsum zurückfahren, liegt also nahe.

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Ist Verzichten die Lösung?

Sonja Bonneß von „Tutzing klimaneutral. 2035“, die unterstützt von Katharina Hirschbrunn von der Evangelischen Akademie Tutzing durch den Abend führte, warf erstmal ein paar Fragen in die Runde: Was löst das Wort ,Verzicht‘ in uns aus? Die Antworten waren vielfältig. Schnell wurde klar, dass die meisten durchaus bereit sind, sich einzuschränken. Und dass wir auf der anderen Seite jetzt schon auf Vieles verzichten, zum Beispiel auf eine intakte Natur, auf die Artenvielfalt, auf gute Luft in den Städten. Aber es wurde auch die Überlegung geäußert, ob es nicht eher strukturelle Veränderungen brauche statt des Engagements Einzelner. Dass es vielleicht sinnvoller ist, seine begrenzte Zeit auf Demos zu verbringen, als kunstvoll die Papier- von der Plastikschicht des Brotpapiers zu trennen. Auch über die Werte, die hinter dem Verzicht stehen, wurde gesprochen: Beim Streben nach Glück sind Freunde und Familie schließlich viel wichtiger als Konsum. Aber wie verzichtet man dauerhaft in einer Gesellschaft, wenn die meisten anderen nicht verzichten wollen?

Die Postwachstums-Gesellschaft

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Sonja Bonneß (re.) moderierte den Abend, leckeres Essen im charmanten Innenhof gab es von ,Marie’s happy food&drinks‘ © Tutzing klimaneutral 2035

Einer der Vordenker für neue Gesellschaftsformen ist Niko Paech, einer der profiliertesten Wachstumskritiker Europas. Ein paar Zitate aus seinem Buch ,Befreiung vom Überfluss – auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie‘ (oekom Verlag) dienten der Runde als weitere Diskussionsgrundlage. Im Buch entlarvt Paech das sogenannte ,grüne‘ Wachstum und den ,nachhaltigen‘ Konsum als Augenwischerei. Sein Gegenentwurf heißt Postwachstumsökonomie, in der die industriellen Wertschöpfungsprozesse eingeschränkt und lokale Selbstversorgungsmuster gestärkt werden.

Katharina Hirschbrunn erklärte das den Anwesenden anschaulich: Studien zeigen, dass das Pro-Kopf-Einkommen seit 1945 immer weiter steigt – aber die Lebenszufriedenheit nicht. Einer der Gründe dafür: Wir gewöhnen uns schnell an das, was uns gerade noch erstrebenswert schien. Auf politischer Ebene wäre es auch deshalb für die Postwachstumsgesellschaft sinnvoll, Entscheidungen auf die Lebenszufriedenheit statt auf Wachstum auszurichten, den ausreichenden Lebensstil zu erleichtern, Care-Arbeit – also Sorgearbeit, sich um andere kümmern - in den Fokus zu nehmen und vor allem strikte Grenzen für den Verbrauch von Ressourcen und Umweltbelastungen zu setzen.

Auch auf der persönlichen Ebene kann man Postwachstum umsetzen, erklärte Hirschbrunn, zum Beispiel indem man sein Leben in den Bereichen Wohnen, Mobilität, Ernährung, Konsum und Freizeit entrümpelt, entschleunigt und entkommerzialisiert.

Positive Visionen

Als Bonneß dann noch aus einem spielerisch-visionären Text über einen ,Tag im Jahr 2103‘ von Lea Wintterlin aus dem Philosophie Magazin vorlas, wurde die Diskussion lebendig. Könnte so wirklich das Leben in 80 Jahren sein? Werden wir die Klimakrise im Griff haben? Wird das Geld abgeschafft sein? Die Wirtschaft lokal und nachhaltig? Wintterlin schreibt: „13. Februar 2103, 08.30h: Während meines Morgenspaziergangs lege ich mich kurzerhand unter einen Baum. Die Kinder sind bei der Projektbetreuung im Lernort und meine Pflegebegleitung steht erst am Nachmittag an. Der Morgen erstreckt sich endlos vor mir. Unvorstellbar, wie die Menschen jemals mehr als 15 Stunden in der Woche lohnarbeiten konnten. Diese merkwürdig antiquierte Vorstellung, dass der Tag etwas ist, dass man produktiv füllen muss. Den man entweder ,nutzen‘ oder ,verschwenden‘ kann. Etwas dazwischen gab es nicht. Stattdessen schaue ich der Zeit beim Vergehen zu ...”. Dass alle in der Runde an diesem Abend nebenher auch noch etwas über die Kunst des Diskutierens gelernt haben, über das Zuhören und Raumnehmen, über false balance *) und gerechte Redezeit, ist ein schöner Nebeneffekt der Klimadiskussion.

Wer Lust hat, beim nächsten Mal mitzudiskutieren oder mal bei der Initiative Tutzing klimaneutral 2035 vorbeizuschauen, findet aktuelle Termine und weitere Informationen hier: https://www.tutzing-klimaneutral.de

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*) Der Begriff „false balance“ beschreibt eine mediale Verzerrung, bei der im Wissenschaftsjournalismus einer deutlichen Minderheitsmeinung übermäßig viel Raum gegeben wird (Quelle: https://www.netzwelt.de/abkuerzung/194190-bedeutet-false-balance-bedeutung-verwendung.html)

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Silke Heuschmann

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