Von Lorenz Goslich

Keine Scheu vor brisanten Themen

Die Evangelischen Akademie Tutzing präsentiert ein Jahresprogramm voller Zündstoff

Das Schloss Tutzing bietet Spannung, Brisanz und Aktualität. Das ist deutlich geworden, als die Evangelische Akademie dieser Tage ihr Jahresprogramms 2018/19 vorgestellt hat. Es ist ein Programm voller Zündstoff. „Die Rente ist eben nicht sicher!“ steht zum Beispiel in einem Tagungstitel. Die Studienleiter haben bei der Präsentation förmlich demonstriert, dass sie keine Scheu vor brisanten Themen haben.

Nach Überzeugung von Akademiedirektor Udo Hahn benötigt eine freie Demokratie Orte, „an denen eine Bürgergesellschaft zusammenkommen kann, um nach Lösungen oder wenigstens nach Teillösungen zu suchen“. Rund 80 Tagungen stellen die Studienleiter jährlich auf die Beine, sagt die neue Pressereferentin Dorothea Grass.

"Droht eine Zukunft voller Hass?" Diese Frage stellt beispielsweise ganz offen Dr. Jochen Wagner, der mit am längsten zum Akademie-Team gehört, zu einer Tagung „Keep cool?“ unter Hinweis auf Konfrontationen von „Freund-Feind“ bis „Links-Rechts“. Als Grundlage dient ihm dafür ein vor 25 Jahren erschienenes Buch des Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen, dessen Titel schon aufhorchen lässt: „Verhaltenslehren der Kälte“.

Sehr deutliche Worte zur medizinischen Forschung findet anlässlich einer Gesundheitstagung Frank Kittelberger, einer von drei Pfarrern im Akademie-Kollegium: „Unheimliche Möglichkeiten, ungeahnte Folgekosten und undurchsichtige Machtverhältnisse werfen ethische Fragen auf.“

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Keine Scheu vor brisanten Themen haben (von li.) Judith Stumptner, Dr. Ulrike Haerendel, Julia Wunderlich, Dr. Jochen Wagner, Frank Kittelberger, Katharina Hirschbrunn, Dorothea Grass und Udo Hahn © L.G.
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Ein Programm wie ein Aufruf, die Dinge beim Namen zu nennen

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Heiße Diskussionen gibt es oft hinter diesen traditionsreichen Mauern © L.G.

Diese Akademie nimmt kein Blatt vor den Mund. Das ganze Jahresprogramm wirkt wie ein Aufruf, die Dinge beim Namen zu nennen. So etwa bei der „großen Transformation“, einem Thema, das sich Studienleiterin Kathatrina Hirschbrunn vorgenommen hat. „Warum passiert eigentlich nichts, obwohl die Deutschen so super umweltbewusst sind?“, fragte sie bei der Präsentation. Sichtlich zufrieden berichtete sie, dass sie für die betreffende Tagung eine junge Aktivistin der Bewegung „Ende Gelände“ gewonnen hat, die, wie sie sagte, „das System ändern und den Kapitalismus in Frage stellen“ will.

Auffallend sind bei all dem Veränderungen in der Akademie, die auch viel mit den Personen zu tun haben. Seit Direktor Hahn 2011 die Leitung übernommen hat, gab es im Kollegium einen beträchtlichen Wandel - altersbedingt, weil Mitarbeiter auf andere Positionen gewechselt sind oder aus sonstigen Gründen. Auch viele persönliche Erfahrungen der Studienleiter fließen ein. Die stellvertretende Akademiedirektorin Judith Stumptner etwa hat zwei Jahre in der Ukraine verbracht. Nun verantwortet sie eine Tagung „Maidan - An unfinished story“. Wie, fragt sie, blickt die ukrainische Gesellschaft heute auf Wandel, Hoffnungen und den Krieg im Osten des Landes? Die Tagung, die auf englisch abgehalten und komplett gedolmetscht wird, kann gleichzeitig exemplarisch für eine starke Vernetzung der Evangelischen Akademie mit anderen Institutionen bis hin zur Bundesregierung stehen: Es handelt sich bereits um die vierte Tagung in einer Reihe, die Judith Stumptner seit 2015 mit Unterstützung des Auswärtigen Amts und der Bundeszentrale für politische Bildung organisiert.

Outdoor-Yoga, Standup-Paddling und ein YouTube-Star

Auch die enormen gesellschaftlichen und technischen Veränderungen stellen die Tutzinger Einrichtung vor gewaltige Herausforderungen. Da wird schon mal die Frage gestellt, ob ein so traditionsreiches Haus mit tiefgehenden Diskussionsveranstaltungen überhaupt noch in diese schnelllebige Zeit voller neuer kommunikativer Online-Angebote passt, in der sich gerade die meisten jungen Menschen auf ganz andere Weise informieren als in mehrtägigen Tagungen. Gerade in dieser Hinsicht finden sich bei Studienleiterin Julia Wunderlich bemerkenswerte Gegenpole. Die Leiterin des "Jungen Forums" schafft es mit mancher zumindest für so eine Tagungseinrichtung ausgefallenen Idee, jüngere Menschen für Akademie-Veranstaltungen zu gewinnen. Da werden schon auch mal ausgefallene Akzente gesetzt - etwa mit Outdoor-Yoga, Standup-Paddling oder Feuerschalen. Julia Wunderlich selbst erzählt beeindruckt von einem Auftritt des Web-Videokünstlers Younes Al-Amayra, der den YouTube-Kanal “Datteltäter” als Teil des Jungen Webangebotes “funk” für die Fernsehsender ARD und ZDF aufbaut: „Jeder der jungen Leute wollte ein Foto mit ihm.“ Von Weizsäckers Ausflüge nach Tutzing

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Auch das bietet die Evangelische Akademie: Sie verfügt über eine der schönsten Parkanlagen am Starnberger See. © L.G.

"Mehr und mehr Kräfte wollen uns das Selberdenken abnehmen"

Was in der heutigen Gesellschaft vor sich geht, wird in der Evangelischen Akademie durchaus kritisch verfolgt. „Mehr und mehr Kräfte wollen uns das Selberdenken abnehmen“, beklagt Direktor Udo Hahn, „weil sie schon die richtige Lösung haben.“ Man müsse sich fragen, ob diese Leute schon nachgedacht hätten: „Denn so einfach sind die Lösungen nicht.“ Demokratie, sagte er, sei „die Gestaltung langsamer Prozesse“.

Der Gründungsimpuls der Akademie ist für Hahn nach wie vor aktuell. Es seien die Erfahrungen aus dem „Dritten Reich“ gewesen, sagt er: „Einer Partei ist es damals gelungen, die gesamte Gesellschaft zu dominieren und alles gleichzuschalten - Fragen waren nicht erlaubt, geschweige denn andere Positionen.“ Daraus, sagt Hahn, hätten die Kirchen den Schluss gezogen, Orte zu schaffen, an denen sich Zivil- und Bürgergesellschaft entfalten kann: „Eine liberale Demokratie setzt ausdrücklich auf die Beteiligung aller.“ In der Arbeit der Akademie gehe es auch darum, Meinungsbildung möglich zu machen, sagt Hahn. Nachdrücklich wiederholt er es: „Wir wollen Menschen zum Selberdenken anregen.“ Im fantastischen Ambiente einer der schönsten Parkanlagen am Starnberger See scheint das besonders gut zu gelingen.

Tutzing als Schauplatz für die Bullyparade, Snowden, Derrick und den Bullen von Tölz

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Prominente Besucher gehen in der Akademie ein und aus: (von li.) Udo Hahn, Herzog Franz und Peter Gauweiler © L.G.

Für Pressereferentin Dorothea Grass ist die Evangelische Akademie "ein einzigartiger Ort" mit hochkarätigen Referenten und einer bewundernswerten Rechercheleistung der Studienleiter. Nur allzu gern lassen sich auch immer wieder Prominente von der Akademie nach Tutzing locken. Am 29. September nimmt der Schriftsteller Frido Mann an einer Tagung über seinen Großvater Thomas Mann teil, am 26. Oktober ist der Liedermacher Konstantin Wecker bei einer Tagung über spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive zu Gast. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wird wohl den ihm von der Akademie verliehenen „Toleranz-Preis“ persönlich in Tutzing entgegennehmen, den in einer anderen Kategorie auch die Fernsehmoderatorin Dunja Hayali erhält.

Als im Frühjahr ein eigens angefertigtes Bild der Königin Therese von Bayern im Musiksaal der Akademie enthüllt wurde, kamen Herzog Franz von Bayern und der CSU-Politiker Peter Gauweiler nach Tutzing. Akademie holt beliebteste Königin nach Tutzing . Häufig hat das Tutzinger Schloss auch schon als Kulisse für Kino- und Fernsehfilme gedient. Michael „Bully“ Herbig hat im Schlosspark für „Bullyparade - der Film“ König Ludwig II. gespielt, im Spionage-Thriller „Snowden“ des amerikanischen Regisseurs von Oliver Stone fungierte die Akademie als US-amerikanische Botschaft am Genfer See. Gedreht wurde auf dem Gelände auch für alle möglichen Fernsehproduktionen wie „Derrick“, „Forsthaus Falkenau“ oder „Der Bulle von Tölz“.

Gelegentlich kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen

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Das Tutzinger Schloss - heute ein Ort, an dem eine Bürgergesellschaft nach Lösungen suchen kann © Evangelische Akademie

Der Austausch unterschiedlicher Meinungen gilt als befruchtend. Gelegentlich kommt es bei Tagungen zu so scharfen Auseinandersetzungen, dass es die jeweils zuständigen Studienleiter nicht leicht haben, wieder Ruhe hineinzubringen. Bei einer Familientagung beschwerten sich Väter einmal sehr deutlich, wie benachteiligt sie sich oft fühlen. Die meisten Familienrichter tendierten dazu, den Müttern das Sorgerecht zuzusprechen, Väter dürften immer nur zahlen. Dabei hatten die Kritiker vor allem einen der Referenten im Visier. Die zuständige Studienleiterin Ulrike Haerendel hatte alle Hände voll zu tun, die Gemüter zu beruhigen, wie sie sich erinnert. Vor allem versuche sie, ihre Referenten in Schutz zu nehmen.

Im Oktober dieses Jahres feiert die Akademie „Happy Birthday, Marx!“ Beschreibung der Organisatoren zu der Tagung: „Noch immer kleidet der Kapitalismus die Welt in die Form der Ware.“ Es werden wohl mehr Besucher dabei sein, die mit dem Leben von Karl Marx etwas anfangen können und Bezüge zur Kapitalismus-Kritik haben, als andere, vermutet Studienleiterin Haerendel. Deshalb würden zu wenige Kritiker dieser Auffassung dabei sein. Die Akademie versuche einen kritischen Ton hineinzubringen, damit es keine Veranstaltung mit „ideologischer Verhärtung“ werde. Studienleiter Wagner erwartet aber gar nicht so viel Ideologie. Er rechnet eher mit einer Tendenz „von Linksaußen zur Mitte“.

Quelle Titelbild: L.G.
ID: 1189
Über den Autor
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Lorenz Goslich

Wirtschafts- und Lokaljournalist, Diplom-Kaufmann, Dr. oec. publ. Schreibt für diverse Medien und liebt seinen Heimatort Tutzing.

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