Bis 2035 werden 15,5 MW Photovoltaik-Kapazität auf den Dächern von Tutzing installiert sein und damit 40,9 % unseres Strombedarfs gedeckt. In Tutzing fahren im Jahr 2035 voraussichtlich 2920 E-PKW. Hierfür müssen bis 2035 127 öffentlich zugängliche Ladepunkte entstehen.
Solche und viele weitere Prognosen enthält ein Dokument mit dem Titel „Tutzing klimaneutral 2035“. Eine Initiative gleichen Namens ist zurzeit in Tutzing in Aufbau. Heute, am Donnerstag, dem 12. Mai 2022, findet im Tutzinger Rathaus um 20 Uhr das Gründungstreffen statt.
Das Dokument „Tutzing klimaneutral 2025“ haben die Initiatoren automatisch mit „LocalZero“ generiert, einem Online-Tool der Klimaschutzorganisation „German Zero“, an die sich die Tutzinger Aktion anlehnt. Lokale Gruppen sind bei German Zero ein wichtiger Ansatzpunkt. Mit „LocalZero“ kann man für jede Stadt, jedes Dorf und jeden Landkreis eine von German Zero erarbeitete „Klimavision“ erzeugen lassen, die als Entwurf für einen individuellen Klima-Aktionsplan dienen soll.
Mit überschlägigen Berechnungen auf Basis umfangreicher Statistiken werde dabei eine Treibhausgasbilanz erstellt und mit den effektivsten Maßnahmen zur Klimaneutralität verbunden, erklären die Verantwortlichen. Die für ganz Deutschland ermittelten Daten werden dabei auf die Kommunen herunterskaliert – eine Vorgehensweise, die die Richtung weist, aber mit Mängeln behaftet ist. So spiegelt sie die konkrete jeweilige Lage nur begrenzt wider. In der Dokumentation für Tutzing tauchen beispielsweise Industriezweige auf, die es in Tutzing nicht gibt, etwa Produktion von Eisen und Stahl, Metallschmelze mit Elektroöfen oder die Papierindustrie.
Energiewende und Ortsbild: Sind das Gegensätze?
Erste Schritte für den Aufbau der Initiative in Tutzing waren bei einer ersten Zusammenkunft im Haus der Initiatoren Dr. Marco Lorenz und Uta Waldau eingeleitet worden. Sie selbst haben am Grubenweg in Tutzing ein Haus mit 200 Quadratmetern Solarfläche errichtet, das nach ihren Angaben fünfmal mehr Strom im Jahr produziert, als die Bewohner und ihre gewerblichen Mieter für Strom und Heizung mit einer Wärmepumpe verbrauchen.
In der Planungsphase waren sie allerdings auch mit Skepsis konfrontiert worden. Eine Diskussion über die Planung am Grubenweg wurde vor Jahren geradezu zu einer Grundsatzdebatte, die zwischen den Polen Energiewende und stimmiges Ortsbild hin und her schwankte. Besonders umstritten war damals ein Pultdach, das eine möglichst großflächige Solaranlage erlauben sollte. Die Gemeindeverwaltung sah Probleme wegen des Bebauungsplans, weil bei einem Pultdach, das im Gegensatz zum Satteldach nur eine schräge Seite hat, die Wandhöhe gleich der Firsthöhe sein würde. In unmittelbarer Umgebung wurde zwar ein Getränkemarkt, aber kein weiteres Wohnhaus mit Pultdach gefunden. Der damalige Ortsplanungsreferent Wolfgang Marchner wandte sich energisch dagegen, dass sich alles der Energiewende unterordnen müsse. Sie sei mittlerweile „ein Religionsersatz“. Er forderte: „Wir dürfen unsere Dachlandschaft dafür nicht aufgeben.“
Vorstöße zum Klimaschutz hatten bisher nicht immer Erfolg
Gegensätzliche Auffassungen wie bei der Genehmigung des Pultdachs am Grubenweg kennen die Initiatoren zur Genüge. Pöckings Bürgermeister Rainer Schnitzler hat sich kürzlich in einer Sitzung des Abwasserverbands darüber beschwert, dass das Landratsamt vor Jahren eine Photovoltaikanlage an der Starnberger Kläranlage verhindert hat. Der Tutzinger Gemeinderat hat vor einiger Zeit eine große Freiflächen-Photovoltaikanlage im Ortsteil Traubing abgelehnt. Daran erinnert sagt Bernd Pfitzner, Gemeinderat der Tutzinger Grünen, auf Dächern sei Photovoltaik wohl besser, als in die Fläche zu gehen. Er bedauert, dass keine solche Anlage auf dem Süddach der Tutzinger Pfarrkirche St. Joseph errichtet worden ist, als es dort ohnehin Bauarbeiten gab. Auch für die Turnhalle hätte Pfitzner gern Photovoltaik, wenn deren erforderliche Dachsanierung ansteht. Er schlägt dabei eine Zusammenarbeit mit dem benachbarten Unternehmen Verla-Pharm vor.
Zur Versammlung heute Abend haben sich auch Bürgermeisterin Marlene Greinwald und Pfitzner angekündigt. „Wir müssen es hinkriegen, dass Klimaschutz in Tutzing geil wird“, sagt Pfitzner, „dass alle an einem Strang ziehen.“ Er freue sich sehr darüber, dass sich nun Leute zusammenfänden, „die das anschieben möchten“. Das Thema sei in Tutzing – auch bei der Ortsgruppe des Energiewendevereins – „ein bisschen versandet“, gesteht Pfitzner.
Zusammenarbeit von Tutzing und Bernried deutet sich an
Eine Zusammenarbeit deutet sich auch mit Akteuren aus der Nachbargemeinde Bernried an. Dort gibt es einen Arbeitskreis Energie und eine Bürgerinitiative „Bernried kann Klima“. Zu den in dieser Hinsicht besonders engagierten Personen in Bernried gehört Konrad Lang, der früher in Tutzing gelebt hat. Er ist auch bei „GermanZero“ dabei, am Gründungstreffen in Tutzing wird er ebenfalls teilnehmen. „Wir haben inzwischen ein gutes Netzwerk aufgebaut“, sagt er. Für wichtig hält er eine Erklärung seiner Gemeinde zur Verbindlichkeit des Klimaschutzes. Zwar müssten keineswegs alle Maßnahmen von der Gemeinde ausgehen: „Es ist aber wichtig, dass man die Verbindlichkeit der Gemeinde als Rückhalt hat.“
In Tutzing gibt es einen Gemeinderatsbeschluss, nach dem alle kommunalen Liegenschaften bis zum Jahr 2035 klimaneutral sein sollen. Pfitzner will die generellen Einflussmöglichkeiten der Gemeinde nicht zu hoch einschätzen, würde es aber gern sehen, wenn sie sich „an die Spitze der Bewegung“ stellen würde. Er würde es für wünschenswert halten, dass der Gemeinderat alle Beschlüsse „unter Klimavorbehalt“ stellt – mit der Folge, dass immer nach klimafreundlicheren Möglichkeiten Ausschau gehalten werden müsste.
Etliche Ansätze gibt es in Tutzing schon. Die Initiatoren von "Tutzing klimaneutral 2035" versuchen derzeit, sie alle mit einzubeziehen. Allerdings scheint es noch in weiten Kreisen an den erforderlichen Informationen zu fehlen. „Ich stelle immer wieder fest, dass viele Leute gar nicht wissen, dass so etwas möglich ist“, sagt Marco Lorenz über die Erfahrungen mit seinem energieeffizienten Haus.
Konrad Lang sieht dies auch durch die Eröffnung einer Ausstellung zur Energiewende im Bernrieder Rathaus am vorigen Mittwoch bestätigt. Er berichtet beeindruckt von sehr speziellen Fragen etlicher Besucher, die sich zuvor schon an andere Stellen, so die Verbraucherzentralen, gewandt, dort aber eher unbefriedigende Antworten erhalten hätten – bis hin zur Empfehlung, eine Gasheizung anzuschaffen.
Die wesentlichen Handlungsfelder
Wesentlich sind nach dem Konzept folgende Handlungsfelder: Strom, Gebäude, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und LULUF (Land Use, Land-Use Change and Forestry - Aufforstung und mehr Naturwald; Wiederverwässung von Mooren; Reduktion der Neuversiegelung; Pyrolyse).
Nach den Ausführungen in dem Dokument „Tutzing klimaneutral 2035“ gleicht der Klimaschutz-Umbau in Tutzing „dem Zehn-Jahres-Projekt zur Mondlandung in den 1960ern“. Um große Investitionen in Zukunftstechnologien zu lenken, sei ebenso wie damals eine mutige Zielsetzung notwendig: „Deshalb muss Tutzing bis 2035 klimaneutral werden und damit seinen Beitrag zum 1,5-Grad-Limit leisten.“ Dafür sei ein detaillierter, durchkalkulierter und überprüfbarer Klima-Aktionsplan erforderlich. Zur Umsetzung dieses Plans müssten zahlreiche Stellen geschaffen werden.
"Strom vollständig aus erneuerbaren Energien"
Zum Thema Strom wird beispielsweise ausgeführt: „Elektrischer Strom wird zum Lebenselixier im klimaneutralen Tutzing. Busse, Bahnen, Autos und alle sonstigen Fahrzeuge werden wir elektrisch oder mit grünem Wasserstoff betreiben. Stromgespeiste Wärmepumpen werden die meisten unserer Gebäude heizen. Auch Industrie und Gewerbe werden einen Großteil ihres Energiebedarfs direkt oder indirekt (über grünen Wasserstoff) durch Strom decken. Bis 2035 müssen wir den dazu notwendigen Strom vollständig aus erneuerbaren Energien gewinnen. Berücksichtigt man die Klimakosten, so ist die Stromerzeugung aus Wind und Sonne bereits heute wesentlich preiswerter als aus der Verbrennung von Gas, Kohle oder Öl. Bis 2035 werden 15,5 MW Photovoltaik-Kapazität auf den Dächern von Tutzing installiert sein und damit 40,9 % unseres Strombedarfs gedeckt.“
Elektroautos: 127 öffentlich zugängliche Ladepunkte gelten als erforderlich
Zum Thema Verkehr heißt es in dem Dokument: "In Tutzing fahren im Jahr 2035 voraussichtlich 2920 E-PKW. Hierfür müssen bis 2035 127 öffentlich zugängliche Ladepunkte entstehen. Politik und Verwaltung sind gefordert, anhand dieser Handlungsansätze ein konkretes Verkehrsaktionsprogramm für Tutzing auszuarbeiten, um im Verkehr bis 2035 klimaneutral zu werden. Dazu gehört auch ein Investitionsprogramm, welches in der Haushaltsplanung berücksichtigt wird. Geht man nach der MFIVE Studie des Fraunhofer ISI, sollte der jährliche Investitionsbedarf in Tutzing bei 10.300.000 e liegen. Dadurch könnten zusätzlich 2,4 Vollzeitstellen in den Bereichen Mobilitätsdienstleistungen und Verkehrsinfrastrukturausbau entstehen.“
Landwirtschaft: Viehwirtschaft und Düngung haben "maßgeblichen Anteil"an Emissionen
Zum Thema Landwirtschaft steht in dem Dokument: "Die Bilanzierung der landwirtschaftlichen Emissionen in Tutzing erfolgt auf Grundlage bundeslandspezifischer Daten des Thünen Report 77 sowie der kommunalen landwirtschaftlichen Fläche. Einen großen Anteil in Tutzing liefert mit 2.680 t CO2e die Tierhaltung, hinzu kommt die nachgelagerte Düngerwirtschaft. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung rät, dass wir aus gesundheitlichen Gründen unseren Fleischkonsum um die Hälfte reduzieren sollten. Die Halbierung der Tierbestände würde den Ausstoß von Methan in der Landwirtschaft halbieren. Neben der Viehwirtschaft hat die Düngung unserer Böden einen maßgeblichen Anteil an den Emissionen. Es gibt einige Möglichkeiten, durch technische Lösungen z.B. die N2O-Emissionen aus landwirtschaftlichen Böden zu reduzieren. Hierzu zählt z.B., Dünger gezielter auszubringen oder den Bedarf durch den Anbau verschiedener Fruchtfolgen zu minimieren. Tutzing könnte dadurch -838 t CO2e einsparen.“
2035: "Tutzing ist klimaneutral"
„2035 wird es geschafft sein“, so ein Fazit der Dokumentation: „Tutzing ist klimaneutral. Wir haben zwar noch Sockelemissionen von 2.750 t CO2e/a (inkl. Kraftstoffe), aber dank der Negativemissionen im Sektor LULUCF stehen wir bei einer netto 0. Das schaffen wir im Verbund von Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Privatpersonen, Politik und öffentlicher Verwaltung. Denn alle Akteure nehmen die Klimawende ernst und schieben zusammen 495.000.000 e Gesamtinvestitionen bis 2035 an. Dieses Klima-Wirtschaftswunder schafft 94,6 regionale Arbeitsplätze.“
Die Kommune sehen die Verantwortlichen von German Zero als „Impulsgeberin“: „Planung wird Chef:innensache. Die Umsetzung der LocalZero Klimavision muss höchste Priorität genießen. Dafür wird auf oberster politischer Ebene eine neue Stabsstelle zur Gesamtplanung, ämterübergreifenden Koordination, Transparenz- und Öffentlichkeitsarbeit eingerichtet – mit den fähigsten Mitarbeiter:innnen. Neben der Planung wird die Kommune selbst 68.800.000 e in die Hand nehmen, um unsere kommunalen Liegenschaften energetisch zu sanieren."
"Der Umbau zur klimaneutralen Kommune macht Tutzing lebenswerter denn je"
Was gewinnen wir? Folgende Schlussfolgerung steht in dem Konzept: "Wir leisten unseren fairen Beitrag zur Einhaltung des 1,5-Grad-Limits und schenken unseren Kindern eine zukunftsfähige Lebensgrundlage. und verschafft uns wirtschaftlich eine Vorreiterstellung. Daneben sparen wir Klimakosten in Höhe von 276.000.000 e ein. 2035 werden wir stolz sein, dass wir die Klimavision haben Realität werden lassen."
Mehr zum Thema:
Initiative "Tutzing klimaneutral 2023:
https://www.tutzing-klimaneutral.de/
"Bernried kann Klima":
Heiß auf Klimaschutz
GermanZero-Magazin zum Gesetzesvorhaben:
https://germanzero.de/media/pages/assets/661400efc6-1638752069/GermanZero_Magazin.pdf
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