Kommentar
22.8.2023
Von Lorenz Goslich

Die Lust, Regeln zu ignorieren

In der Tutzinger Hauptstraße zeigt sich erstaunlich große Bereitschaft, Vorschriften zu missachten

Ortszentrum96.jpg
Als stünde das Schild nicht da: Diese Rennradler haben heute nicht mal gezögert und das Verbot komplett ignoriert - wie viele andere auch

Am vergangenen Wochenende in der Hauptstraße. Zwei Rennradler fahren am Schild „Durchfahrt verboten“ vorbei, als stünde es nicht da. Gewiss, die Straße war schon wieder frei befahrbar. Jedenfalls sah so aus. Aber auch die Schilder standen noch da – und die verboten zu dieser Zeit noch die Durchfahrt ohne wenn und aber. Den Rad fahrenden Personen war es wurscht. Kurz darauf kam ein Auto und hielt vor dem Schild an, immerhin - um dann weiter zu fahren.

Ignorierte Regeln: Dafür gibt es zurzeit in Tutzing interessante Beispiele. Das Durchfahrtverbot an der Hauptstraße war nur eines von vielen. Ähnlich ist es mit dem Badeverbot im Kustermannpark, an der Brahmspromenade oder am Thomaplatz. Die Bereitschaft, Vorschriften zu missachten, ist erstaunlich groß. Gelegentlich werden wir sogar geradezu aufgefordert, Regeln zu ignorieren. „Rules are made to be broken“ steht auf T-Shirts. „Ignore the Rules“: So heißt ein Buch des Autors Markus Czerner. Regeln berauben uns unserer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, behauptet er: „Sie schränken uns ein und ersetzen oftmals das eigenständige Denken.“ Genau aus diesen Gründen, empfiehlt er, sollten wir es hin und wieder mal wagen, Regeln zu brechen.

Ortszentrum97b.png
Durchfahrt verboten? "Regeln ersetzen oftmals das eigenständige Denken"
Anzeige
Beautiful-Weihnachten-2024-B.png

Missachtet werden besonders Regeln, deren Sinn nicht einleuchtend erscheint

Ortszentrum99.jpg
Parkscheibenzone oder absolutes Haltverbot? Angesichts dieser Beschilderung geraten manche ins Grübeln - und nicht wenige entscheiden sich dann fürs Parken. © L.G.

Wenn man genau hinschaut, missachten Menschen nicht alle Regeln. Regelmäßig ignoriert werden aber offenkundig solche Regeln, deren Sinn nicht einleuchtend erscheint.

An der Tutzinger Hauptstraße, wo früher der Tengelmann/Edeka-Markt war, steht Weile ein Schild, das das Halten und Parken von Autos in Richtung Süden verbietet. Nach Norden wird eine Parkscheibenzone angezeigt. Etwas weiter nördlich stand für eine Weile ein Schild, das ein Halt- und Parkverbot sowohl nach Norden als auch nach Süden anzeigte. An ein und der selben Stelle zwischen diesen beiden Schildern, durfte man also nach dem einen Schild mit einer Parkscheibe sein Auto abstellen, nach dem anderen Schild durfte man das nicht. Was passierte wohl? Die Leute parkten ihre Autos dort - ganz nach Czerners Rat: Ignore the Rules! Aber mittlerweile ist das nördliche Schild entfernt worden. Nun ist also alles klar: Mit Parkscheibe ist das Parken erlaubt. Klare Regeln helfen.

Ortszentrum110.jpg
Das Schild rechts ist entfernt worden - jetzt sind die Regln klar © L.G.

Die gibt es auch in den Parks am Seeufer: Baden verboten. Aber viele Menschen sehen das ganz offensichtlich nicht ein. Gerade für Familien ist es tatsächlich an diesen Plätzen sehr entspannend, auch wegen der nahen Spielplätze. Gestern hat im Kustermannpark regelrecht das Leben pulsiert, als dort ein Beachvolleyball-Turnier stattgefunden hat. Ein Hendl-Wagen stand da, Musik hat für gute Stimmung gesorgt, den vielen Menschen dort hat es sichtlich gefallen. Die „offiziellen“ Bäder bieten da oft nicht so viele Möglichkeiten für alle Generationen. Warum also nicht dort baden? Das sagen mittlerweile auch viele Einheimische. Die direkt daneben stehenden Schilder, die das Baden und Lagern verbieten, werden ähnlich ignoriert wie der Hinweis im Südbad, dass der südliche Steg Senioren vorbehalten ist. Tatsächlich geht es auf dem anderen Steg gelegentlich so wild zu, dass kleinere Kinder auf dem „Seniorensteg“ ganz offensichtlich besser aufgehoben sind. Dort können sie ungefährdeter ins Wasser gehen. Aber um das zu tun , müssen sie die Regel brechen.

Beachvolleyball-Turnier10.png.jpg
Pulsierendes Leben im Kustermannpark am Wochenende mit Beachvolleyball-Turnier, Hendlwagen und vielen Menschen, die die Atmosphäre am See genossen haben - und ganz offensichtlich nicht einsehen wollten, weshalb sie das Badeverbot beachten sollten

Je mehr Regeln es gibt, umso weniger werden sie beachtet

Regeln haben halt immer mehrere Seiten. Hier bringen sie Vorteile, dort Nachteile. Nicht immer werden alle Aspekte bedacht, wie man zeitweise beispielhaft an den widersprüchlichen Schildern neben dem Ex-Tengelmann/Edeka-Markt erkennen konnte.

Man kann wohl folgern: Je mehr Regeln es gibt, umso weniger werden sie beachtet. Weniger Regeln wären wohl oft mehr - erst recht, wenn die wenigen Regeln dann auch scharf kontrolliert würden. Nach dem Stand von 2022 gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 1773 Bundesgesetze mit 50 738 Paragrafen und 2 795 Bundesrechtsverordnungen mit 42 590 Paragrafen. Gesetze und Rechtsverordnungen der sechzehn Bundesländer sind dabei nicht eingerechnet. Selbst wenn man nur einige dieser Regeln, Czerners Rat folgend, brechen wollte, hätte man ganz schön zu tun.

Aber die meisten Menschen kennen viele Regeln gar nicht, zumal ständig neue Regeln hinzukommen, oder sie missachten sie, weil sie ihnen unpassend erscheinen oder weil sie sich in der Regelflut nicht zurechtfinden. Wollte man umgekehrt all die Regeln kontrollieren, dann würde man sich schnell Ärger einhandeln. Weshalb sie denn nicht auf Einhaltung der Badeverbote auf den Promenaden achten, werden Verantwortliche der Gemeinde gelegentlich gefragt. Sie hätten keine Lust, sagen sie dann oft dazu, sich von den Badenden beschimpfen zu lassen.

ID: 6104
Über den Autor
Goslich-Lorenz2.jpg

Lorenz Goslich

Wirtschafts- und Lokaljournalist, Diplom-Kaufmann, Dr. oec. publ. Schreibt für diverse Medien und liebt seinen Heimatort Tutzing.

Kommentar hinzufügen

Anmelden , um einen Kommentar zu hinterlassen.

Kommentare

Vielen DANK für Ihren Kommentar, Herr Mauser, und Differenzierung: Regelverbote im Straßenverkehr können andere gefährden und tragisch ausgehen, und diese werden hier rein aus Bequemlichkeit begangen.
Ich finde, man muss unterscheiden, ob der Regelbruch im Einzelfall eine Gefahr darstellt bzw. zur Folge haben kann oder ob, wenn überhaupt, jemand sich gestört fühlen könnte bzw. dieses Verbot Sinn macht oder nur evtl. willkürlich verordnet worden ist.

Seit Jahren werden die Badeverbote, die es meiner Erinnerung nach früher so nicht gab, von gemeindlicher Seite geduldet bzw. es wird nichts dagegen unternommen. Von daher könnte man inzwischen durchaus von einem tolerierten Gewohnheitsrecht ausgehen gegen das nichts einzuwenden ist.

Anders sieht es aus, wenn Radler, aber auch motorisierte Verkehrsteilnehmer, sich nicht an Verbote halten, die zu Gefährdungssituationen führen können. So z.B. die massenhafte falsche Benutzung der Hallberger Allee bergab entgegen der zulässigen Fahrtrichtung. Dem Beispiel der Radler folgen Lieferdienste mit ihren Spintern, die nur liefern und ihren Job machen wollen, und Brotzeiter, die nur mal kurz zum Lutz möchten.
Eines ist hier allen gleich, sie gefährden sich und andere.
Nachdem hier ein sogenanntes Badeverbot im Kustermannpark angesprochen wurde - ein paar Gedanken dazu: Heisst das, dass nur Hunde ins Wasser dürfen und zum Ausruhen nur die Bänke benutzt werden dürfen und Spielplatz und Volleyballfeld im Vorbeigehen angeschaut werden dürfen?
Das Problem bei gesetzeswidrigem Verhalten besteht darin, dass bei einem Unfall auch andere in der Schuldfrage belangt werden können, auch wenn sie nachweislich alles regelgerecht eingerichtet haben.
Dessen sind sich im obigen Beispiel die beiden Radfahrer vermutlich nur nicht bewußt. „Selber Schuld“ gilt heute vor Gericht in immer weniger Fällen.
Es gibt Regeln, die unbestritten Leib & Leben der Menschen schützen sollen, und es gibt andere Regeln, die "nur" unterschiedliche Interessen der Menschen untereinander sortieren. Die Spannweite der letztgenannten Regeln ist dann auch noch mal in sich extrem weit.
Daher kann nicht jeder Regelbruch wie der andere bewertet werden. Diese Ansicht teilt auch unser Rechtsstaat, indem er bestimmte Regeln strikter kontrolliert und bei Verstössen schärfer sanktioniert; bei anderen Regeln aber nicht so genau hinschaut. Dennoch sind auch die banaleren Regeln im Grundsatz Regeln; das merkt man spätestens dann, wenn der eigene Regelbruch ungewollte Folgen hatte und man die Verantwortung dafür tragen muss.
Unser Rechtsstaat ist sich sehr wohl bewusst, dass sich manche seiner offiziellen Regeln hin & wieder widersprechen: Beispiel sind die aktuellen Klimakleber... gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr oder legitimer Protest & ziviler Ungehorsam? Für beide Standpunkte kann man juristische Argumente vortragen, und je nach speziellen Fall mag mal das eine oder das andere Argument überwiegen.
Regeln, Vorschriften & Gesetze - man könnte auch sagen Legislative, Judikative & Exekutive - sollen Spannungsfelder regeln, die nicht immer so eindeutig zu regeln sind.

Niemand kann/will in einer Gesellschaft ohne Regeln & Gesetze leben.
Aber ebenso will niemand von uns in einer Gesellschaft leben so ganz ohne jeden Regelbruch! - Das wäre dann Totalitarismus.
Heiss begehrt, ewig gesucht, immer wieder neu ausgetestet ... und doch niemals perfekt erreichbar: der annähernd optimale Mittelweg !

(Bearbeitet)
Feedback / Fehler melden