Gesundheit
22.10.2024
Von vorOrt.news

Dem Herzen ganz nah

Die neue Tutzinger Schule für Gesundheitsberufe setzt innovative Technik ein

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Der Weg zum Herzen ist gar nicht so einfach: Mit der Virtual-Reality-Brille versuchte sich Landrat Stefan Frey voranzutasten. Hilal Erbasi-Weinfurtner zeigte auf einem Bildschirm, was Frey durch die Brille sah. © L.G.

Für eine Brille wirkt das Gestell etwas klobig. Aber in der neuen Schule für Gesundheitsberufe Tutzing“ gilt die „Virtual-Reality-Brille“ als wichtige Lernmethode der Zukunft. Am Freitag, als die Artemed-Unternehmensgruppe die Schule feierlich eröffnete, durften alle, die es wollten, ausprobieren, wie das funktioniert.

Wenige nutzten diese Gelegenheit, aber der Starnberger Landrat Stefan Frey und Tutzings Bürgermeister Ludwig Horn waren gleich mit von der Partie. Sie merkten allerdings schnell, dass der Umgang mit so einer innovativen Methode gar nicht so leicht ist.

„Man kommt dem Herzen so nah, wie man nur kann“, erzählte währenddessen Hilal Erbasi-Weinfurtner, die daneben stehende Assistentin der Schulleitung. „Sie können theoretisch in die Lunge hinein gehen", sagte sie. Der Landrat und der Bürgermeister waren sichtlich beeindruckt. Kathrin Brosowski, die Leiterin der unternehmenseigenen Artemed-Akademie, zeigte sich überzeugt: „Das ist eines der künftigen Mittel in der Ausbildung."

Horn: Die neue Schule ist ein Meilenstein für Tutzing

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Tutzings CSU-Bürgermeister Ludwig Horn lief mit der Brille auf der Suche nach Details im menschlichen Körper durch den Raum. Dabei landete er fast bei Britta Hundesrügge von der FDP und Bernd Pfitzner von den Grünen. © L.G.

Für Bürgermeister Horn ist die neue Schule ein wichtiger Meilenstein für Tutzing und für die Gesundheit in diesem Ort. Der Unterricht in der Einrichtung läuft eigentlich schon seit dem vergangenen Jahr. Sie knüpft an eine lange, seit 18 Jahren unterbrochene Tradition an. Schon 1948 hatten die Missions-Benediktinerinnen in Tutzing eine Krankenpflegeschule eröffnet. Sie bestand bis 2006, dann wurde sie – nicht zuletzt wegen immer neuer Vorschriften für die Ausbildung – geschlossen.

Die Artemed-Gruppe setzt diese Tradition nun mit großem Engagement fort. Ihr Geschäftsführer Prof. Rainer Salfeld betrachtet dies als wesentlich für so ein Gesundheitsunternehmen: „Wir brauchen eigene Ausbildung, um gute Mitarbeiter zu haben“, sagte er, „und ohne eigene Ausbildung werden wir sie nicht bekommen.“

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Zurzeit 71 Schülerinnen und Schüler - rund 80 Prozent mit Migrationshintergrund

Bundesweit gibt es in der Artemed-Gruppe bereits sieben unternehmenseigene Pflegeschulen. Die jüngste von ihnen wurde erst kürzlich am Klinikstandort Lilienthal in Niedersachsen eröffnet. Nach Angaben von Akademie-Leiterin Kathrin Brosowski sind weitere Schuleinrichtungen geplant. In ganz Deutschland will Artemed auf längere Sicht rund 1000 Schülerinnen und Schüler jährlich ausbilden.

Die Tutzinger Schule bietet Platz für 158 Schülerinnen und Schüler. Schulleiterin Elisabeth Weinfurtner und ihr 13-köpfiges Team unterrichten aktuell 71 Personen in einer einjährigen Ausbildung zum Pflegefachhelfer sowie einer dreijährigen Ausbildung zu Pflegefachmann oder Pflegefachfrau. Etwa 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben Migrationshintergrund. Sie kommen unter anderem aus Tunesien, Marokko, Kamerun, Indien, Kroatien, Südafrika oder Usbekistan. Für Salfeld besteht deshalb kein Zweifel: „Wir brauchen die Zuwanderung als Gesellschaft.“ Es gibt wöchentlichen Deutsch-Unterricht. Ort- und zeitunabhängig wird er durch „Koviko Care“ unterstützt, eine von der Firma Koviko gemeinsam mit der Artemed-Akademie entwickelte „Sprach-, Kultur- und Pflege-App“, die die Integration und Einarbeitung von internationalen Pflegekräften optimieren soll.

Kameras verfolgen die Arbeit der Pflegekräfte an den Simulationspuppen

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Testen, bevor es direkt zu den Patienten geht: Im Simulationszentrum der neuen Tutzinger Schule warten etliche Puppen auf die Pflegekräfte © L.G.

Innovativ wie die Virtual-Reality-Brille wirkt Vieles in der neuen Schule. Der Schulcampus ist direkt mit dem Benedictus-Krankenhaus Tutzing verbunden. Er erstreckt sich auf zwei Stockwerke, Erdgeschoss und Untergeschoss. Fünf Klassenzimmer sind mit XXL-Monitoren und innovativem Schulmobiliar ausgestattet. Als Herzstück der Schule gilt ein 230 Quadratmeter großes Simulationszentrum - die exakte Nachbildung eines Patientenzimmers.

Da liegen menschenähnliche Simulationspuppen in den Betten, mit denen die Auszubildenden Situationen aus dem Pflegealltag ebenso wie Notfallsituationen simulieren können, sagte Thomas Riethdorf, der Leiter des Simulationszentrums - bevor sie in realen Situationen oder direkt am Patienten arbeiten. Das, was sie machen, übertragen zwölf 360-Grad-Kameras auf vier Monitore in einem Regieraum, von dem aus Pädagogen und Simulations-Instruktoren die verschiedenen Situationen steuern. Per Mikrofon können sie ins Live-Geschehen eingreifen. Nach einer Simulation gibt’s dann Gespräche mit den Beteiligten - das so genannte „Debriefing“.

Salfeld kritisiert unterschiedliche Lehrpläne für Pflegeberufe in den Bundesländern

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In einer geschützten Lernumgebung werden kognitive, technische und verhaltensbezogene Fähigkeiten getestet, erläuterte Thomas Riethdorf (2. von links) im von ihm geleiteten Simulationszentrum © L.G.

Dem Herzen nah sein - diese Anforderung gilt in Krankenhäusern keineswegs nur in körperlich-technischer Hinsicht. Salfeld betonte diesen Aspekt ausdrücklich: Für die Qualität eines Krankenhauses seien nicht die Bauten, sondern die dort arbeitenden Menschen entscheidend, sagte er. Für die Patienten seien die Pflegekräfte meist die ersten Ansprechpartner. Empathische Mitarbeiter seien deshalb wichtig. Das Personal in den Tutzinger und Feldafinger Kliniken wird diesem Anspruch nach seinen Worten mit guten Bewertungen gerecht.

Kritisch äußerte sich Salfeld über die unterschiedlichen Lehrpläne für Pflegeberufe in den einzelnen Bundesländern: „Es ist wünschenswert, dass sich die Politik um ein einheitliches Curriculum für Pflegekräfte kümmert.“ Die Pflegeausbildung findet in der Tutzinger Schule als Blockunterricht statt: der theoretische Unterricht in der Schule, die praktische Ausbildung in verschiedenen Kliniken der Artemed-Gruppe, so denen in Tutzing und Feldafing, im Artemed-Klinikum München-Süd, in der Artemed-Fachklinik Dießen, aber auch in externen Einrichtungen der stationären Akut- und Langzeitpflege, der ambulanten Pflege, der Pädiatrie und der Psychiatrie.

Die Pflegefachkräfte werden für die Dauer ihrer Ausbildungen beim Benedictus-Krankenhaus Tutzing oder in der Artemed-Klinik München-Süd angestellt. Sie erhalten neben einem als attraktiv geltenden Ausbildungsgehalt „Benefits“ wie zum Beispiel finanzielle Zulagen, ein Tablet, Online-Schulbücher, eine Wohnmöglichkeit während der Ausbildungszeit, Zugang zu den Bildungsangeboten der Artemed-Akademie sowie kostenfreien Mitarbeitersport wie Fitness und Yoga.

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Die Schule ist zwar schon seit mehr als einem Jahr in Betrieb, doch das rote Band durfte nun bei der offiziellen Eröffnungsfeier trotzdem nicht fehlen © L.G.

Einstiegsgehälter in der Pflege nach drei Jahren Ausbildung: 3400 Euro brutto plus Zulagen

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"Mythen entgegentreten": Diese Forderung der AGP-Sozialforschung bracht (Vergrößern: Bitte anklicken)

Nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss garantiert Artemed die Übernahme in einen unbefristeten Arbeitsvertrag in einer der zur Gruppe gehörenden Kliniken. 90 Prozent der Schüler würden übernommen, sagte Prof. Salfeld. Er widersprach nachdrücklich den oft verbreiteten Behauptungen, Pflegeberufe würden schlecht bezahlt. Die Schule biete vielmehr den Einstieg in ein hochattraktives Berufsfeld. 16- bis 19-Jährige absolvierten eine dreijährige Ausbildung, nach der 19-Jährige mit Anfangsgehältern von brutto 3400 Euro plus Zulagen begännen. „Es gibt nur drei oder vier andere Berufe mit einem ähnlichen Gehaltsniveau“, sagte Salfeld. Er forderte die Politik auf, dies auch einmal zu sagen und nicht immer nur zu behaupten, Pflegeberufe brächten kein Geld.

Solche Behauptungen scheinen tatsächlich ihre Wirkung zu haben. Weitaus weniger Absolventen der Realschule als noch vor einigen Jahren zeigen sich beispielsweise heute an Pflegeberufen interessiert, bestätigte Angela Richter, die Leiterin der Tutzinger Benedictus-Realschule. „Wir reden in der Öffentlichkeit nicht gut über die Pflege“, kritisierte der Gerontologe und Sozialexperte Prof. Thomas Klie, der bei der Eröffnungsfeier einen Vortrag hielt. Viele „Mythen“ über die Pflegeberufe widerlegte er. So sinke die Zahl der Erwerbstätigen in der Pflege nicht, sie sei vielmehr stabil und sogar steigend.

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Die "Qualifizierungsreserve" in der professionellen Pflege ist viel zu gering, kritisiert Prof. Klie - und in Bayern drohe 2030 der "Kipppunkt", an dem die Zahl der Berufsaustritte die Zahl der Berufseintritte übersteigt © Vergrößern: Bitte anklicken

Frey: Neues Krankenhausgesetz „Blindflug in unserem Gesellschaftssystem“

Der Starnberger Landrat Stefan Frey nutzte die Eröffnungsfeier auch zu deutlicher Kritik an der in Arbeit befindlichen Gesundheits- und Krankenhausreform. Das neue Krankenhausstrukturreformgesetz bezeichnete er kritisch als „Blindflug in unserem Gesellschaftssystem“ – eine Formulierung, über die Prof. Salfeld später sagte, das könne er nur bestätigen.

Die Reform sei zwar wichtig, sagte Frey, doch es sei zumindest fahrlässig, sie „komplett ohne die Partner“ einzuleiten, „die mit am Tisch sitzen sollten.“ Dem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warf Frey vor, er versuche nach eigenen Worten ein „unkontrolliertes Krankenhaussterben“ zu vermeiden: Damit steuere Lauterbach also „ein kontrolliertes Krankenhaussterben“ an. Der Weg mit viel mehr Spezialisierung und Zentralisierung werde neue Kosten entstehen lassen. Es werde einen „brutalen“ Wettbewerb um die Fälle und die Fallpauschalen geben."

Dieses Szenario läßt beim Starnberger Landrat erkennbar Zweifel daran aufkommen, was das alles für die Krankenhäuser in der hiesigen Region bedeuten wird. Werden Ärzte und Pflegekräfte den Herzen auch in Zukunft ganz nah sein können, im medizinisch-technischen wie im emotionalen Sinn? Frey formulierte es klipp und klar: "Was wird aus den Kliniken auf dem Land? Werden sie künftig noch auskömmlich finanziert sein?“ Diese Frage, monierte der Landrat, hätte vorher mit allen Beteiligten geklärt werden müssen. Auch der Freistaat Bayern und die anderen Bundesländer müssten sich bewegen, forderte er: „Es ist wichtig, dass wir zu einer geordneten Krankenhausplanung kommen.“

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