Geschichte
2.5.2021
Von vorOrt.news

Signal gegen das Vergessen

Tutzinger Gedenkfeier für KZ-Opfer anlässlich des Todesmarschs von Dachau 1945

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Die Teilnehmer der Gedenkfeier legten nach jüdischer Tradition je einen Stein auf das Mahnmal

Seit 2011 steht am Neuen Friedhof in Tutzing ein Gedenkstein für 54 ehemalige KZ-Häftlinge, die in den letzten Kriegstagen in Tutzing gestorben sind. Ihrem Andenken galt am Freitag eine kleine Gedenkfeier mit Verantwortlichen aus Kommunalpolitik und Bildung. Teilnehmer waren Bürgermeisterin Marlene Greinwald, Vizebürgermeisterin Elisabeth Dörrenberg und der dritte Bürgermeister Dr. Franz Matheis, Prof. Ursula Münch, die Direktorin der Akademie für politische Bildung, sowie Schüler und Verantwortliche von Tutzinger Schulen, so Anne-Kathrin Schallameier (Grund- und Mittelschule), Karin Zwick-Chwaszcza (Benedictus-Realschule) und Andreas Thalmaier (Gymnasium).

Bürgermeisterin Greinwald erinnerte an die verzweifelte Lage der KZ-Opfer und die Hilfe durch Tutzinger Bürger. Nur von 17 der 54 Personen waren damals die Namen bekannt. Die Identität weiterer von ihnen konnte später geklärt werden. Über lange Zeit erinnerte nichts mehr an ihr grauenvolles Schicksal. Mit dem Gedenkstein wollte die Gemeinde einen „posthumen Beitrag der Integration und Versöhnung“ leisten, erklärte 2011 der damalige Bürgermeister Stephan Wanner.

An der Einweihung des Gedenksteins nahmen 2011 Max Mannheimer und Leslie Schwartz teil

Bei der Einweihung des Denkmals im September 2011 sprachen zwei Überlebende des Zugs, Max Mannheimer (1920-2016) und Leslie Schwartz (1930-2020). Max Mannheimer sagte damals: „Mit diesem von Tutzing ausgehenden Signal gegen das Vergessen widersprechen Sie all jenen, die immer wieder einen Schlussstrich fordern." Leslie Schwartz berichtete: "Tatsächlich war ich am Ende des Krieges kaum als menschliches Wesen wiederzuerkennen." Er habe weniger als 40 Kilogramm gewogen und in seinem Gesicht eine offene Wunde gehabt: "Ein Mitglied einer SS-Einheit hat mir während des ,Massakers von Poing’ einen Genickschuss versetzt.“

Für Max Mannheimer und für Leslie Schwartz war es ein wichtiges Anliegen, dass die nachfolgenden Generationen weiterhin Erinnerungsarbeit leisten. „Mit zunehmender zeitlicher Distanz beginnt die Geschichte abstrakter zu werden“, sagte Mannheimer. Das Denkmal möge dazu beitragen, „jene Erinnerung wach zu halten, die mit dem Verstummen von uns Zeitzeugen zu verblassen droht.“

An der Gestaltung der Feier waren auch damals Schüler des Tutzinger Gymnasiums beteiligt.

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Ansprache von Tutzings Bürgermeisterin Marlene Greinwald

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An der Gedenkfeier nahmen Vertreter der Tutzinger Schulen und des Tutzinger Bildungssektors teil © L.G.

"Die Erinnerung darf nicht enden, sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen" (Roman Herzog). Aus diesem Grund haben wir uns hier versammelt. Vor 76 Jahren, und nur wenige Tage vor dem Ende des 2. Weltkrieges und der Schreckensherrschaft der Nazis, beschlossen die Aufseher des KZs Dachau, die noch verbliebenen etwa 1500 Gefangenen vor den herannahenden Aliierten in Richtung Alpen zu verschleppen, um möglichst keine Zeugen zu hinterlassen. Die ausgemergelten, ausgezehrten und fast verhungerten Gefangenen des KZs wurden in Züge gepfercht und fuhren in Richtung Weilheim. Kurz vor Polling endete die Fahrt. Die Gefangenen glaubten, dass sie befreit seien und flohen vor den SS-Schergen. Doch diese richteten unter den fliehenden Geiseln ein Blutbad an. Die überlebenden Flüchtlinge wurden eingefangen und in einem Zug nach Tutzing gebracht, wo die Fahrt endgültig endete. Die feigen Aufseher des KZs flohen, die verzweifelten und völlig entkräfteten Gefangenen waren sich selbst überlassen. Auf dem Weg in die Ortsmitte und auf der Suche nach Essbarem starben 54 Menschen qualvoll. Die Überlebenden klopften an Haustüren und riefen verzweifelt nach Lebensmitteln. Viele Tutzinger kochten aus den kargen, eigenen Vorräten Suppen oder Ähnliches und stellten sie vor ihre Haustüren um den ersten Hunger dieser verzweifelten Menschen zu stillen. Die 54 Toten wurden auf dem neuen Friedhof anonym bestattet. Im Jahr 1958 wurden die sterblichen Überreste exhumiert und in eine Grabanlage in Dachau überführt. Unter den Überlebenden dieses Todesmarschs waren Max Mannheimer und Leslie Schwartz, die regelmäßig nach Tutzing kamen und vor Schülern über diese grauenhafte, dunkle Zeit berichteten. Ich selbst durfte Max Mannheimer noch kennenlernen. Er starb am 23. September 2016 in München, Leslie Schartz am 12. Mai 2020 in seiner neuen Wahlheimat USA. Ihr größtes Anliegen war es, die Erinnerung an die Greueltaten der Nazi-Diktatur zu erhalten und zur Wachsamkeit gegenüber neuen antisemitischen und rassistischen Tendenzen zu mahnen. Ihrem Vermächtnis folgend und im Gedenken an die 54 Toten des 30.4.1945 und die Greuel des Dachauer Todesmarsches legen wir nach alter jüdischer Tradition je einen Stein auf das Mahnmal. Wenn wir hier schon versammelt sind, möchte ich auch noch der vielen Toten und Verletzten des tragischen Unglücks in Israel am Berg Meron gedenken."

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