Geschichte
20.11.2018
Von vorOrt.news

„Es war das wahre Paradies“

Ein Blick ins Tutzing früherer Jahre von Stefanie Knittl und Elke Schmitz in der Münchner Bank

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Eine beeindruckende Führung ins Tutzing von früher gab es von Elke Schmitz (li.) und Stefanie Knittl © L.G.

Alte und neue Häuser in Tutzing: Das ist schon ein erheblicher Unterschied. Warum wurde früher anders gebaut als heute? „Die Gewerke waren ganz anders’“, sagte die aus einer bekannten Baumeisterfamilie stammende Tutzingerin Stefanie Knittl bei einer Veranstaltung in den Räumen der Münchner Bank: „Heute gibt es eine starke Arbeitsteilung und Spezialisierung, viele Teile werden fertig angeliefert - das lässt die Häuser so steril aussehen.“ Früher hätten die Handwerker, vom Spengler bis zum Kunstschlosser, alles viel individueller angefertigt: „Der Baumeister war ein handwerklicher Beruf.“ Baumeister, erzählte sie, haben früher auch oft selbst Pläne angefertigt und damit Aufgaben eines Architekten übernommen: „Es war ein ehrenvoller, anerkannter Beruf.“ Heute spielten auch noch viele andere Anforderungen eine Rolle. So müsse alles praktisch und einbruchsicher sein: „Das macht sich auch in der Architektur bemerkbar.“

Stefanie Knittl und Elke Schmitz, beide in Tutzings Historie sehr kundig, lieferten bei der Veranstaltung einen beeindruckenden Einblick in Bauten und vor allem auch in die Geschäftswelt früherer Zeiten. Stefanie Knittl hat ein viel beachtetes Buch „Häuser erzählen Geschichten“ veröffentlicht, in dem sie die Arbeiten der Baumeisterfamilie Knittl am Starnberger See in der Zeit von 1872 bis 1987 beschreibt (Details siehe ganz unten auf dieser Seite). Elke Schmitz, vielen Tutzingern als Lehrerin bekannt, leitet seit langem die Redaktion der „Tutzinger Nachrichten“.

Viele Erinnerungen an Tutzinger Unternehmer früherer Zeiten

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Wo heute Fristo, Edeka ud Lidl sind: Das Unternehmen Suiter (li.) und die Pelzwarenfabrik von Oskar Schüler (Mitte)

„Um 1900 gab es keine Autos, keine asphaltierten Straßen, keine Parkplätze und keine Leuchtreklamen, dafür aber wunderschöne Vorgärten und große Grundstücke“, sagte Stefanie Knittl: „Es war das wahre Paradies.“ Sie zeigte ein Bild der 1900 errichteten Villa Knittl mit der Hauptstraße daneben. Die war damals so schmal, dass es einige Besucher kaum glauben konnten.

Es war auch eine Zeit, in der Privatleute noch für Straßen sorgten. Der Unternehmer Oskar Schüler beispielsweise hat die nach ihm benannte Straße gebaut, erzählte sie, damit die Verbindung für seine Kunden zum Bahnhof kürzer wurde. 1918 kaufte er ein Gebäude an der nördlichen Hauptstraße und brachte dort seine Pelzwarenfabrik unter. Später war die Reinigung Würth auf diesem Areal ansässig, das mittlerweile zum Einkaufszentrum geworden ist. Nebendran befand sich das Dampfsägewerk Suiter - früher Steidele - mit einer Zimmerei. „Oskar Schüler hat den Tourismus in Tutzing angekurbelt, weil er Modenschauen veranstaltet hat“, erzählte Stefanie Knittl. Er habe sogar Flugzeuge gechartert und Rundflüge über den Starnberger See organisiert.

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Dieses Bild der Knittl-Villa an der nördlichen Hauptstraße hat Annie Knittl um 1920 von einer Foto-Postkarte abgemalt

Bauernhöfe im Tutzinger Zentrum - und das Kurhaus war ein Hotel

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Das Kurhaus, als es noch das Hotel Ludwig war, auf einer alten Ansichtskarte © Archiv Gernot Abendt

Die Referentinnen berichteten von vielen Unternehmern aus früheren Tutzinger Zeiten: dem Spengler Bustin und dem Installateur Derigs, dem Kunstschlosser Bodemann und dem Tapezierer Dommaschk, dem Glaser Wörsching, der Reißverschlussfabrik Gödeke, später Dittmaier, und einer Handtuchfabrik, etwa dort, wo sich heute die Peter-Maffay-Stiftung befindet. Es gab Erinnerungen an die Zimmerei Wilhelm Müller, die Schreinerei Martin Müller und den Schreinermeister Martin Konrad, der ansässig war, wo heute Elektro-Müller ist. Etliche Häuser - so auch dieses - wurden im so genannten Starnberger Landhausstil errichtet. Zierliche Ornamente unter dem Dach sind auf einem alten Bild zu erkennen. Im alten Seehof-Hotel habe es viele solcher Ornamente gegeben, erzählte Elke Schmitz: „Als es abgebrochen wurde, hätte ich gern ganz viele davon mitgenommen - aber wohin damit, wenn man Reihenhausbesitzer ist?“

Konrad Himmler war Tutzings erster Ofensetzer. Ihr Opa hat bei ihm gelernt, berichtete Elke Schmitz. An dieser Stelle befindet sich heute die Kreissparkasse. Das Zentralheizungsgeschäft von Josef Blümel, später von Ludwig Gassner übernommen, war dort, wo sich heute der Sanitärbetrieb Heirler befindet. Der Dekorationsmaler Kaspar Brandl arbeitete in einem Gebäude, das dann der Friseur Rehm übernahm. Für ein paar Jahre wurde in den Räumen das Weinlokal Baccaro geführt.

Schräg gegenüber befand sich das Ökonomiegebäude Lautenbacher, in dem heute das Modegeschäft „Tutti frutti“ seinen Sitz hat. Den Pavillon nebenan, in dem heute ein Döner-Laden betrieben wird, gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mitten an der Hauptstraße, wo heute der Edeka-Markt ist, stand ein alter Bauernhof, der „Barbarahof“, etwas weiter südlich auf der anderen Straßenseite der "Heiglhof". Die Schmiede Hößle, später eine Tankstelle, hat in der Ortsmitte neben der einstigen Turnhalle angefangen.

Das Kurhaus war einst das „Hotel Ludwig“, der Eingang war schräg nach vorn - eine sehr repräsentative Ansicht. Bei Bodemann daneben, im Haus der heutigen Eisdiele, bekam man alles, vom Büstenhalter in Übergröße bis zu Gummibändern. „Mein Vater hat von Bodemann jedes Jahr zu Weihnachten Taschentücher mit Monogramm bekommen“, erinnerte sich Stefanie Knittl.

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Ein Plan aus dem Jahr 1894. Unten rechts der Bernrieder (Andechser) Hof, gegenüber Eckerl und links daneben der Heiglhof (heute Zahnarzt)

Der Wandel des Tutzinger Geschäftslebens

Der Metzgermeister Bockmayr war an der Ecke Hauptstraße/Greinwaldstraße. Später zog dort der Konsumverein Hans Marx ein, viele kennen das Haus auch noch als Filiale des Starnberger Unternehmens Houdek. Im hinteren Bereich wurde geschlachtet. Auf einem der Vorgängergebäude der Münchner Bank nebenan befand sich ein Türmchen.

An der Ecke Hauptstraße/Hallberger Allee gab es früher einen Kiosk, wo später das Café Dreher, dann Hofmair entstand. Anschließend bot in dem Jugendstilgebäude Franz Clement seine Waren an, heute befindet sich in diesen Räumen das Café Erin.

Der Tutzinger Hof war früher der Poldlhof, dann der Gasthof zum Löwen, dann der „Fiederer“. Schräg gegenüber war der Gasthof Zum Schäffler, der zum Bernrieder Hof und schließlich zum Andechser Hof wurde.

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Der Andechser Hof in früheren Zeiten

Der Bader Eckerl hat Haare geschnitten, Zähne gezogen und Tiere verarztet

Auf der anderen Straßenseite war der Bader Eckerl (heute Parfümerie). „Er hat Haare geschnitten, Zähne gezogen und zur Not auch Tiere verarztet“, erzählte Stefanie Knittl, „eigentlich war er der erste Dorfmediziner.“

In einem sehr alten Haus an der Hauptstraße, neben dem Gymnasium, war der Bäckermeister Donatus Mayr ansässig. Dann waren auch mal ein Tierarzt und die beiden Zahnärzte Böcke und Rösch in diesem Gebäude tätig. Eine spätere Eigentümerin vermachte das Gebäude der Gemeinde Tutzing mit der Auflage, es als Armenhaus zu nutzen. Mittlerweile steht das Haus unter Denkmalschutz, seit Jahren wird es nicht mehr bewohnt. Für das Gebäude habe es vor Jahren ein Kaufangebot über 650 000 Euro gegeben, sagte Peter Gsinn, dem das Nachbarhaus gehört und der den Denkmalschutz beantragt hat: „Der Käufer hätte dann an mein Haus ein vierstöckiges Gebäude angebaut.“

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Das Mayr-Haus vor langer Zeit

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Die historischen Bilder stammen, sofern nicht anders angegeben, aus dem Buch von Stefanie Knittl "Häuser erzählen Geschichten. Die Baumeisterfamilie Knittl am Starnberger See (1872-1987)", Apelles Verlag, Starnberg 2018. 300 Seiten. Mit 345 Abbildungen. ISBN 978-3-946375-05-0. Preis € 39,80

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