Der „Edeka“ im Tutzinger Ortszentrum steht leer, ebenso der „Laden“ in der Greinwaldstraße oder die frühere „Tutzinger Modeboutique“ an der Hauptstraße, gegenüber der Hallberger Allee. Solche Entwicklungen könnte man als Beispiele für den ganz normalen Wirtschaftsablauf sehen: Handel und Wandel. Doch es steckt viel mehr dahinter.
Das Geschäftsleben befindet sich in Tutzing im Umbruch - wie überall. Corona mit all seinen Folgen kam als dickes Problem hinzu, doch ganz unabhängig davon machen sich langfristige Veränderungen erheblich bemerkbar.
Viele Tutzinger lesen Bücher mittlerweile mit „Kindle“ oder anderen elektronischen Geräten. Wenn sie eine neue Kaffeemaschine, ein Bügeleisen oder einen Toaster brauchen, klicken sie Amazon an. Sie müssen sich nicht aus ihren vier Wänden hinaus bewegen - am nächsten Tag bringt sie ihnen ein Paketbote bis an die Haustür. Sogar Lebensmittel bestellt sich so mancher inzwischen „online“.
Die Digitalisierung ist nur ein Teil der Erklärung
Die Digitalisierung wird heutzutage oft als Auslöser des Wandels betrachtet. Aber sie ist nur ein Teil der Erklärung. So vollzieht sich auch in der „stationären“ Geschäftswelt selbst ein beträchtlicher Wandel. Wäscheklammern Gummibänder, Unterwäsche, Socken: Wer früher in Tutzing nicht wusste, woher er solche Dinge bekommen kann, der wurde im Zweifelsfall beim Bodemann fündig - dort, wo heute die Eisdiele Corallo auf andere Weise wie ein Magnet wirkt. Läden dieser Art gibt es immer noch, so beispielsweise den „Kohlen-Müller“ schräg gegenüber. Bei ihm bekommt man Schraubenzieher, Nägel und Wäscheleinen genauso wie Blumentöpfe, Hundefutter und Kochlöffel. Solche Allround-Anbieter für den Alltagsbedarf sind beliebt, aber dass sie der gewaltigen Welle der Veränderungen noch standhalten können, ist trotzdem erstaunlich - und die Flut wird ständig stärker. Immer mehr Teile der Produktwelt suchen sich ihre Wege längst in ganz andere Kanäle. USB-Sticks, Adapter und anderes elektronisches Zubehör kann man genauso in Supermärkten und Tankstellen kaufen wie Blumen, Spielsachen oder Kugelschreiber. Viele Tutzinger suchen solche Produkte schon gar nicht mehr in kleineren „stationären“ Läden.
Etliche Einflussfaktoren prägen den Wandel
Viele Betreiber von Tutzinger Geschäften ziehen ihre Konsequenzen, auf ganz unterschiedliche Weise - mit eigenen Online-Shops, Lieferservice, neuen Sortimentsteilen und anderen, oft pfiffigen Ideen. Doch es ist eine gewaltige Herausforderung, der Macht des Wandels standzuhalten, alle gravierenden, sich häufig nur behutsam andeutenden Veränderungen im Blick zu haben und im Einzelfall die richtigen Folgerungen abzuleiten.
Gewisse Hilfen gibt es. Wie sie mit der Digitalisierung umgehen, zeigen zum Beispiel derzeit neun mittelständische Unternehmen aus Bayern im Rahmen einer Studie der Universität Regensburg, die das bayerische Wirtschaftsministerium unterstützt. Einige dieser so genannten „digitalen Champions“ haben ihre Strategien am heutigen Mittwoch online vorgestellt. Das ist Teil eines Projekts „Soforthilfe für den Handel“, mit dem das Wirtschaftsministerium das Regensburger Institut „ibi research“ in der Corona-Krise beauftragt hat. Digitale Hilfe für den Einzelhandel
Einkaufsmagneten locken die Kunden aus Tutzings Ortszentrum weg
Weitere wichtige Einflussfaktoren prägen den Wandel. Dazu gehört die Entzerrung der Kundenströme. Die Supermärkte außerhalb des Ortszentrums halten nicht nur viele Waren parat, die man früher eher in Spezialgeschäften fand. Sie erleichtern den Kunden das Einkaufen zudem durch eine Bündelung von Angeboten in mehreren benachbarten Geschäften mit gut erreichbaren Parkplätzen direkt vor der Tür.
Eine starke Anziehungskraft entwickeln auch die Einkaufszentren in München oder Weilheim, die mit ihren umfangreichen Sortimenten und ihren oft durch ganz andere Mengen ermöglichten Preisgestaltungen viele Tutzinger aus dem örtlichen Geschäftsleben weg locken.
Ein weiterer Magnet könnte die in Entstehung befindliche "Business Area Tutzing" auf dem ehemaligen Gelände von Boehringer-Mannheim und Roche werden, die schon als künftiger neuer Ortskern bezeichnet wurde.
Die Trümpfe der lokalen Anbieter
Lokale Anbieter haben aber immer noch echte Trümpfe in der Hand. In der Nähe zu ihren Kunden und der oft persönlichen Kenntnis ihrer Interessen liegen erhebliche Potenziale für individuelle Angebote und Dienstleistungen.
Kürzlich fragte eine Tutzingerin beim Kohlen-Müller nach einer bestimmten Schraube, die aus ihrem Liegestuhl herausgebrochen war. Der Betreiber hatte die passende Schraube sofort parat und erkundigte sich, ob die Dame den Stuhl denn selbst reparieren könne, wie sie später begeistert erzählte. Sonst komme er gern zu ihr und erledige das. So einen Service wird man bei keinem Amazon, keinem Karstadt und keinem Supermarkt erhalten.
Viele neue Impulse gehen zurzeit von der Aktionsgemeinschaft Tutzinger Gewerbetreibender (ATG) aus. Bei ihren Versammlungen sprudeln die Ideen regelrecht, zwischen den Unternehmen werden Verbindungen hergestellt, mit Veranstaltungen macht der Verein die Bürger auf die Geschäftswelt aufmerksam. Auch bei der ATG machen sich besonders die vielfältigen Chancen des persönlichen Engagements in der lokalen Geschäftswelt bemerkbar, das oft weit über die rein wirtschaftlichen Interessen hinaus reicht.
Auf der Suche nach der Maus
Wer sein Fachwissen mit Hilfsbereitschaft und Schnelligkeit paart, wird auf viel Begeisterung stoßen und damit auch neue Stammkunden gewinnen. So manches Produkt kaufen die Tutzinger übrigens nur deshalb online, in Weilheim oder München, weil sie es in ihrer Gemeinde nirgends finden oder weil sie nicht wissen, wo sie es suchen sollen, obwohl es durchaus angeboten wird. In dieser Hinsicht könnte beispielsweise ein konsequenter Aufbau detaillierter Suchmöglichkeiten helfen, so etwa mit Datenbanken, in denen man nicht nur Gattungsbegriffe wie „Computer“ oder „Werkzeug“, sondern ganz konkrete Artikel wie USB-Stick, Adapter, Tablet oder Maus findet.
Für die Kunden jederzeit da sein - aber wie?
Wichtig ist auch die Präsenz. Mancher Laden fällt noch mit langen Pausen zur Mittagszeit auf - aber die größeren Einkaufsmärkte haben durchgehend geöffnet. Da muss man sich nicht wundern, wenn die Leute ihre Besorgungen anderswo machen. Der Schulunterricht endet halt meist gegen 13 Uhr - wenn man um diese Zeit in einem kleinen Geschäft noch schnell ein paar Hefte oder Filzstifte kaufen will, aber vor verschlossenen Türen steht, dann weicht man halt auf den Drogeriemarkt aus, der solche Produkte mittlerweile ebenfalls führt.
Mancher kleinere Betrieb ist auch nicht immer erreichbar, zum Beispiel, weil die wenigen Mitarbeiter gerade bei einem Kunden sind. Die Kunden brauchen das, was sie suchen, aber meistens sofort. Wenn jemand beispielsweise eine Reparatur braucht, aber bei einem Handwerker nicht weiter kommt, schaut er sich schnell nach einem anderen um. Das muss nicht sein. Mit einfachen technischen Methoden wie etwa einer Rufumleitung oder einer Mailbox, die je nach Bedarf unterschiedlich besprochen werden kann, gibt man einem Anrufer das Gefühl, erreichbar zu sein und gut bedient zu werden.
Viele Tutzinger Geschäftsleute bereichern die Optik ihres Ortes
Mit ideenreichen Gestaltungen bereichern manche Tutzinger Geschäftsleute die Optik ihres Ortes erheblich. Da bleiben immer wieder Menschen stehen und schauen sich die ausgestellten, oft schön dekorierten Stücke sichtlich begeistert an. Attraktive Ladeneingänge und -umgebungen sorgen auch für höheres Kundeninteresse und langfristig für steigende Umsätze, wie Handelskenner immer wieder bestätigen.
Auch Sonderaktionen locken Kunden an, wenn sie gut gemacht sind. Gerade zurzeit und in den nächsten Wochen gibt es dafür in Tutzing interessante Beispiele. Intersport Thallmair veranstaltet zum Beispiel in dieser Woche einen Sonderverkauf auf seinem Parkplatz mit Preisreduzierungen bis zu 80 Prozent. Da kann man beobachten, wie derartige Initiativen magnetische Anziehungskraft entfaltet. Beim Blumen- und Accessoir-Spezialisten „Beautiful home and garden“ in der Greinwaldstraße laufen unterdessen schon intensive Vorbereitungen für eine Jubiläumsfeier zum zehnjährigen Bestehen des Geschäfts, die im September stattfinden soll. Da sind etliche Überraschungen geplant, auf die man gespannt sein darf.
Die Tutzinger Kunden sind gut beraten, die Anbieter ihres Ortes zu berücksichtigen, wenn sie sie auf Dauer nicht verlieren wollen. Umgekehrt zeigen etliche Beispiele, dass die Chancen der lokalen Anbieter gar nicht so schlecht sind. Gerade in der zwar vielschichtigen, aber auch immer anonymeren Digitalwelt steigen ihre Chancen, wenn sie sich geschickt und individuell auf die Bedürfnisse ihrer Kunden einstellen. Viele von ihnen machen das schon heute ausgesprochen pfiffig.
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vielen Dank dafür, dass Sie das Thema aufgreifen. Schon seit Jahren spreche ich Einzelhändler und Gewerbebetreibende darauf an, dass sie sich insbesondere auf dem Gebiet des Onlinehandel zusammenschließen sollen. Andere Gemeinden haben das auch schon vor Corona vorgemacht und lokale Einkaufsplattformen und Online-Shops auf den Weg gebracht (z. B. https://www.mainlokalshop.de/?s=Kugelschreiber&post_type=product&product_cat=0) . Mag sein, dass Tutzing alleine da vielleicht zu klein ist. Vielleicht benötigt man hier auch Initiativen auf Landkreis-Ebene. Eine Vorarbeit werden die Einzelhändler allerdings leisten müssen: Ihr Produkte müssen erfasst werden und für die Darstellung im Internet "aufgearbeitet" werden. Die häufigste Antwort der Einzelhändler auf meine Anregung war, dass gerade dieser Aufwand ihnen zu groß sei.
Aber auch auf andere Art und Weise ließen sich Synergien schaffen. Zum Beispiel liefert jedes Unternehmen noch selber aus. Wäre ein gemeinsamer Lieferservice Tutzinger Unternehmen nicht auch sinnvoll. Das ganze könnte über eine gemeinsame Teilzeitkraft doch realisiert werden. Vielleicht wäre ja auch ein "Rahmenabkommen" mit einem Taxiunternehmen möglich.
Oder es wird ein gemeinsamer Ort in Tutzing geschaffen, wo ich mir auch nach Geschäftsschluss meine online (oder telefonisch) bestellten waren abholen kann. Diesen kann ich dann auf dem Heimweg von der Arbeit noch problemlos ansteuern.
Ich war auf den ersten Sitzungen nach dem "Restart" der ATG (Tutzings Gewerbetreibende stellen sich neu auf dabei. Damals Stand noch nicht Corona sondern die Auswirkungen der Sanierung der Hauptstraße mit im Vordergrund. Bei der Stärkung des Einzelhandels wurden leider nur Einzelmaßnahmen (z. B. verkaufsoffener Sonntag, Straßenfest, Adventsmarkt etc.) diskutiert. Bleibt zu hoffen, dass nach und nach weiterführende Ideen aufgegriffen und umgesetzt werden. Wir haben gute Einzelhändler im Ort und für einen lebendigen und lebenswerten Ort brauchen wir diese auch.
Jede/r Einzelne kann die Gewerbetreibenden vor Ort unterstützen, indem er lokal einkauft. Die Einzelhändler vor Ort sollten den lokalen Einkauf aber auch so einfach und auf vielen Wegen (online, offline, telefonisch etc.) möglich macht.
Eigene Online-Shops aufzubauen und permanent zu pflegen ist für die hier typischen Betriebsgrößen natürlich schwer bis unmöglich. Das geht ja über die klassische Unternehmens-Web-Seite weit hinaus. Aber man könnte sich zusammentun … im Rahmen der ATG oder darüber hinaus … und gemeinsam ein großes, chices Tutzing-Online-Shopping-Portal auf die Beine stellen. Je mehr Geschäfte, Handwerker und andere Dienstleister, Beherbergungsbetriebe und Gastronomien mitmachen, umso besser. Dann könnte man sich eigene Profis leisten, die sich in Vollzeit um dieses Portal kümmern; und kein Tutzinger und kein Gast müsste noch zu Amazon & Co. ausweichen.
Geschäfte mit Mittagspause oder geschlossenem Mittwochnachmittag sind vollkommen aus der Zeit gefallen. Vielleicht auch große Teile des gesamten Einzelhandels.