Unsere neue Serie "TUTZINGER STANDPUNKTE" steht allen Akteuren unserer Gemeinde als Forum zur Verfügung. Damit ein umfassendes Meinungsspektrum entsteht, würden wir uns über Beiträge freuen. Willkommen sind auch andere Auffassungen, beispielsweise in Form von Antwort oder Entgegnung auf veröffentlichte Texte. Alle Tutzinger Parteien und Gruppen, Vereine, Einrichtungen und Institutionen wie auch alle Bürgerinnen und Bürger laden wir herzlich ein, uns Artikel an info@vorort.news zu schicken.
Hier der erste Beitrag. Geschrieben hat ihn Lucie Vorlíčková für den Vorstand der Tutzinger Liste e.V.:
Die Bilanz der Rathauspolitik zeigt eine zu verbessernde Zielorientierung
Vor einem Jahr nahm der neu gewählte Gemeinderat seine Arbeit innerhalb der bereits laufenden Amtsperiode der 1. Bürgermeisterin auf. Die Bilanz der Rathauspolitik zeigt nach Auffassung der Tutzinger Liste eine zu verbessernde Zielorientierung an planvoller Ortsentwicklung und bürgernaher Administration. „Die Luft wird immer dünner“, so das Fazit von Dr. Wolfgang Behrens-Ramberg, Vorsitzender der Bürgervereinigung und Wirtschaftsreferent im Gemeinderat, „und zwar auf zahlreichen Feldern und Ebenen des Gemeinde- und Bürgerwohls.“
Das Fundament, der Gemeindehaushalt, erodiert schon zu lange
Der im März beschlossene Haushalt 2021 und die mittelfristige Finanzplanung 2022 bis 2024 zeigen in brisanter Deutlichkeit den Abrieb der gemeindlichen Finanzkraft. Das nach zähem Ringen beschlossene Zahlenwerk (siehe Infokasten) dokumentiert quasi amtlich: Die Tutzinger werden weiterhin auf einen Sanierungs- und Investitionsstau blicken und wichtige Vorhaben für die Entwicklung der Gemeinde bleiben unangetastet.
Alle wissen seit vielen Jahren um die strukturelle Einnahmeschwäche bei der Gewerbe- und Einkommensteuer. Doch was wird dagegen systematisch und konkret unternommen? Der im Gemeinderat vertretene Bürgerverein Tutzinger Liste e.V. (TL) hat mehrfachen Anlauf genommen und im Mai vergangen Jahres konkrete Handlungsvorschläge unterbreitet (Leitziele 2030 und ISEK-Fördergelder). Ziel müsse es sein, weg vom aktionistischen Stückwerk zu kommen und unter Mitsprache der Bürger klare, transparente Handlungsziele für die Kernbereiche zu formulieren und daraus ein Konzept zu entwickeln: Bauen und Wohnen, Mobilität und Verkehr, Wirtschaft und Tourismus, Landschaft nutzen und gestalten in einer möglichst intakten Natur und Umwelt. Keineswegs zuletzt muss es um das soziale Miteinander in der Gemeinde gehen. Ohne diese Verständigung auf Grundlagen und die hieraus resultierenden politischen Entscheidungen ist eine fundierte Finanzplanung und damit eine generationengerechte Entwicklung der Gemeinde auf Sand gebaut.
Die Anstöße aus dem Gemeinderat werden denn auch immer dringlicher. Dr. Behrens-Ramberg (TL) mahnte wiederholt in Gremien und Medien den Beschluss vom Oktober 2020 an, eine professionelle Moderation für das Programm „Leitziele Tutzing 2030“ zu installieren. Ebenso appelliert Dr. von Mitschke-Collande (CSU) in seinem Haushaltsreport für die Tutzinger Nachrichten: “Es bedarf umgehend einer grundsätzlichen intensiven, offenen Diskussion und daraus folgenden zum Teil auch nicht so gefälligen Entscheidung, wie wir mit der strukturelle Einnahmeschwäche umgehen wollen“. Es ist daher zu wünschen, dass Bürgermeisterin Greinwald diesen fundamentalen Zukunftsimpuls aus der Mitte des Gemeinderats aufgreift und eine adäquate Erörterung zeitnah auf die Agenda nimmt.
Stärken stärken, Schwächen erkennen, Ressourcen ordnen
Warum schaffen es solche ganzheitlicheren Richtungsbestimmungen Tutzings bislang nicht klar auf Platz 1 der Prioritätenliste der Rathauspolitik? Eine systematische Betrachtung der Potenziale Tutzings - und die sind beträchtlich - würde gleichzeitig zu Erkenntnissen führen, welche Mängel und Defizite deren voller Aktivierung entgegenstehen.
Erster Optimierungsbefund: Gemeinderatssitzungen brauchen eine produktivere Struktur
Die hohe Arbeitsauslastung in Gemeindeverwaltung und Bürgermeisteramt sei unbestritten. Aufgrund des schon lange andauernden Siedlungsdrucks auf Tutzing bedarf es des wohlüberlegten Einsatzes von Ressourcen und der Abwägung nach Bedeutung. Ein Beispiel: In 2020 sind viele Familien nach Tutzing gezogen. Die meisten (wenn nicht alle) haben im Ort keinen Kita- bzw. Kindergartenplatz gefunden. Diese Situation wird sich (nicht nur) durch den Bezug der Gebäude Am Kallerbach zuspitzen. Das Thema „Kita- und Kindergartenplätze schaffen“ wurde indes vergangenes Jahr im Vergleich zu nachrangigeren Aktionsthemen zu keiner Zeit beschlussfähig im Gemeinderat behandelt. So auch hat es das zentrale Thema „Leitziele Tutzing 2030“ mit den in der Folge zu generierenden staatlichen ISEK- Fördergeldern nur eher beiläufig auf die Tagesordnung geschafft ohne fundierte Vor- und Nachbereitung. Zudem wurden die Beratungen zur Haushaltsplanung viel zu spät angesetzt und der Rechnungsprüfungsausschuss hat bis heute, Mitte 2021, noch nicht das Prüfungsergebnis für das Rechnungsjahr 2019 (!) präsentiert. Das sind Mängel und Hemmnisse für eine fortschrittliche ortspolitische Dynamik.
Die Hoheit über die Beratungs- und Beschlussagenda des Gemeinderats hat die Erste Bürgermeisterin. Hier bedarf es einer Priorisierung der für die Gemeindeentwicklung grundlegenden Themen und einer neuen arbeitsteiligen Produktivität. Derzeit wirkt etwa der Tutzinger Gemeinderat weithin wie ein zweites Bauamt, weil die Diskussion von Bauvorhaben meist einen überdimensionalen Teil der Sitzungszeit einnimmt. So stellt sich hier die Frage nach der Effizienz, da das Rathaus ein eigenes Bauamt unterhält und der ganz überwiegende Teil der Ratsmitglieder nicht über das maßgebliche (Bau)Fachwissen verfügen kann. Obendrein ist es das Landratsamt Starnberg, welches die Baugenehmigungen erteilt. Diese sperrige Dreifachbehandlung gilt es zu straffen.
Zweiter Optimierungsbefund: Scheiternde Vorhaben schrecken Investoren ab
Um die kommunale Finanzkraft zu stärken, benötigt der Ort vor allem mehr Gewerbesteuereinnahmen.
Die Ansiedlung des IT-Unternehmens Lobster und die noch geplanten Zugänge im Bürostandort Bahnhofstraße/Bräuhausstraße sind Fortschritte, reichen aber noch nicht. Denn diesen Anfängen stehen steckengebliebene Ewigkeitsprojekte entgegen, die Investoren und Gewerbesteuerzahler abschrecken.
Das Areal Seehof liegt seit Jahrzehnten brach und der Andechser Hof schickt sich an, dieses Schicksal zu teilen. Aber auch bei kleinen Projekten, wie z.B. der Minigolfanlage, geht es nicht zügig voran. Hier macht der Gemeinderat einen Beschlussrückzieher aufgrund von Bedenken was hier zulässigerweise, auch unter Beachtung des Lärmschutzes, möglich ist. Für einen „Spielplatz mit Kiosk“ wird jetzt das Landratsamt bemüht.
Dritter Optimierungsbefund: Es fehlt an Digitalisierung und an Transparenz
Viele Gemeinden (z.B. Pöcking) nutzen digitale Kommunikationsplattformen, um trotz Pandemie das kommunale Arbeitsspektrum nicht einzuschränken. In Tutzing wurde entschieden, Sitzungen des Gemeinderats und der Ausschüsse zeitweise zu beschränken oder (wie auch die Bürgerversammlungen) ganz ausfallen zu lassen. Dass die Beschränkung der Anzahl der Ratsmitglieder an den Sitzungen nicht noch in den Mai verlängert wurde, ist der starken Wortmeldung von Gemeinderat Dr. Weber-Guskar (FDP) zu verdanken. Um zügig kommunalpolitische Entscheidungs- und verwaltungsvorgänge - auch im transparenten Dialog mit den Bürgern - zu führen, muss sich das Rathaus digitalen Kommunikationsplattformen und dem Fortschritt an Effizienz und Transparenz öffnen. Nur so kann Tutzing im Wettbewerb moderner Kommunen und den Bürgererwartungen mithalten.
So wäre die Digitalisierung des Gemeindehaushalts ein geradezu exemplarischer Schritt in der Verwirklichung des Transparenzgedankens, wie Dr. Behrens-Ramberg jüngst im Gemeinderat darlegte: Die Gemeinde sollte prüfen, die Daten in Tabellenstruktur aus der Haushaltssoftware in eine eigene Internetseite zu exportieren. Diese Form des Zugangs könnte auch den Gemeinderat und den Rechnungsprüfungsausschuss die Arbeit effizienter gestalten lassen. Und schließlich dürften auch verbesserte Bürgereinblicke dabei helfen, verpasste Geldquellen oder Einsparungen zu finden – etwa in der Nichtaktivierung der königlichen Zweitwohnungssteuer und der erwähnten staatlichen städtebaulichen Fördergelder.
In diesen Tagen ist der neu gewählte Gemeinderat ein Jahr im Amt und geht schon auf die Sommerpause zu. Zusammen mit der Bürgermeisterin ist für Tutzing beschleunigt ein starkes Fundament zu schaffen. Der Weg dorthin führt über einen nachhaltigen und generationengerechten Finanzhaushalt. Und den konzeptionellen Mut, (Leit)Ziele und Prioritäten aufzustellen. Noch fehlt es daran.
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Kommentare
Nun ist die Initiative der Tutzinger Liste äußerst löblich, auf Grundlage einer soliden Analyse und eines ebensolchen Konzeptes die Gemeindefinanzen in den Fokus zu rücken. Das muss geschehen, unbedingt. Der buchhalterische Gestus lenkt jedoch vom eigentlichen Problem ab, dessen Prämisse ich bereits zur Sprache gebracht hatte, die Frage der Steuergerechtigkeit. Der niederländische Historiker Rutker Bregman formulierte es auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum 2019 so klar wie es nur geht: „… no one raises the real issue of tax avoidance … the rich just not paying their fair share. It feels as if I’am at a firefighters conference and no one is allowed to speak about water … we’ve got to be talking about taxes. That’s it, taxes, taxes, taxes.“ Und wo leben sie, die potenziellen Steuerzahler mit den klugen Steuerberatern? Gewiss nicht in Gelsenkirchen, dafür aber zahlreich in Tutzing und Umgebung. Und sie leben in einer Gesellschaft, die ihnen größtmögliche Schonung zuteilwerden lässt; eine Schonung, die am anderen Ende bei den Schwächsten, und das sind eben die Kinder der Armen, in greifbares Elend mündet. Zu besichtigen ist das sehr eindrücklich in der Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit ausstrahlenden Ruine der hiesigen Mittelschule.
vielen Dank für Ihren freundlichen Hinweis, der mir zeigt, dass ich an einer Stelle missverstanden werden kann. "Über die Verhältnisse" zielt im übertragenen Sinne sachlich auf die strukturelle Einnahmelücke Tutzings, auf die Sie in Ihrem Kommentar ja auch eingehen(Wegzug Roche). Wir sind uns doch einig, dass es mit Blick auf den Sanierungs-und Investitionsstaus, gerade im Vergleich mit anderen Seengemeinden, leider heißen müsste "unter den Verhältnissen". Ich denke wir verstehen uns.
Vielleicht kommt ja noch von anderen Seiten die eine oder andere Stellungnahme hinzu?
@ Frau Reinholz-Breil:
Ob Tutzing angesichts des offensichtlichen Investitions- und Sanierungsstaus in der jüngeren Vergangenheit und aktuell über seine Verhältnisse lebte, glaube ich nicht unbedingt; jedenfalls nicht als alleinige Ursache der Misere. Aber vielleicht könnten uns Bürger diesbezüglich die Verantwortlichen ihre besser informierte Sicht der Dinge erläutern?
Generell können die Kommunen mitunter nur sehr indirekt auf ihre Einnahmen einerseits und auf ihre Aufgaben (Ausgaben) andererseits Einfluss nehmen. Wir erinnern uns diesbezüglich auch an die Auseinandersetzungen zwischen dem Bund, den Ländern, sowie den Städten & Gemeinden um das KONEXITÄTSPRINZIP vor einigen Jahren! Oder kann Tutzing etwas dafür, dass in der aktuellen Pandemie Steuereinnahmen wegbrechen, die Aufgaben aber bleiben oder im sozialen Bereich sogar größer werden?
Bei Tutzing im speziellen kam wohl auch die Sache mit Boehringer (später Roche) hinzu. Bis in die 70er und auch noch Anfang der 80er Jahre hatte Tutzing mit diesem Pharmaunternehmen einen herausragenden Gewerbesteuerzahler und Arbeitgeber auf seinen Fluren beheimatet. Finanziell stand Tutzing ähnlich solide da, wie Pöcking heute. Aber damals wollte (oder konnte?) man deren Expansionspläne nicht entsprechend mittragen. Bei Boehringer/Roche konzentrierte man sich folgerichtig auf den Ausbau des Standortes Penzberg und zog sich nach und nach aus Tutzing zurück.
Einen gleichwertigen Nachfolger zu Roche konnte Tutzing über Jahrzehnte nicht finden. Ob man nicht wirklich wollte, ob man nicht konnte, oder ob man nur immer wieder Pech hatte, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht wird es mit den neuen Gewebeansiedelungen auf dem ehemaligen Rochegelände bald wieder besser?
Der Bürger hat das Seinige bereits getan: indem er in 2018 (Bürgermeister) und in 2020 (Gemeinderat) gewählt hat. Jetzt kann er "nur" seine konstruktive Meinung kundtun, sich unterstützend einbringen (z.B. durch Optimierungsvorschläge) und das Gespräch mit Bürgermeisterin und Gemeinderat suchen. Anders gesagt: Wir Bürger können an politischen Planungen und Entscheidungen nur beteiligt werden über die Einbeziehung unserer Meinungen und Erfahrungen. Eine gute Möglichkeit hierzu wäre der beim Prozess der Leitziele ("gemeindepolitisches Gesamtkonzept") notwendig vorgesehene Bürgerinput.
Wenn ich es richtig verstehe, werden zur vollständigen Bezahlung des gewohnten Gemeindelebens, Geldreserven aufgelöst und Immobilien verkauft. Dies stimmt mich nachdenklich, was die Zukunft Tutzings betrifft. Es mag in einen kommunalen Haushalt anders gesehen werden, aber wenn ich die Situation auf einen privaten Haushalt übertrage, würde es ganz klar heißen: wir leben über unsere Verhältnisse und müssen entweder unser Einkommen erhöhen/oder/und die Ausgaben kürzen. Jedenfalls könnten wir nicht wie gewohnt weiter machen! Daher finde ich diesen Weckruf, die kommunale Haushaltslage Tutzings jetzt konzeptionell, zusammen mit den Bürgern, zu überdenken und konkrete Ziele anzugehen, wirklich gut!
zu Ihrer Information, die Rede unseres Bundestagsabgeordneten Stefan Schmidt vom Dezember 2019:
https://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/altschuldenfonds-fuer-kommunen
und im Bundestagswahlprogramm (Vorschlag des Vorstandes, wird auf dem Bundesparteitag noch diskutiert und verabschiedet)
ab Seite 72
https://cms.gruene.de/uploads/documents/2021_Wahlprogrammentwurf.pdf
Viele Grüße
Bernd Pfitzner
Geht's um Tutzings Gemeindefinanzen hört man seit den goldenen Zeiten, als man noch sorgenfrei im Boehringer-Geld schwamm, längst nur noch mahnende und beklagende Worte.
Lange Staus bei Investitionen und immer wieder hinausgeschobene Sanierungen allenthalben.
Jetzt kommen auch noch die pandemiebedingten Belastungen obendrauf.
Da erinnere ich mich ins letztes Jahr zurück und an eine leise Diskussion über einen kommunalen Schuldenschnitt. Auch Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat das kürzlich nochmals gefordert. Er sprach Ende April von einer sog. STUNDE NULL für die Kommunen.
Wenn man bedenkt welche Industrien letztes Jahr erst staatliche Unterstützung in Milliardenhöhe offensiv forderten und bekamen, um anschließend Rekordgewinne zu bilanzieren (und an die Aktionäre im In- & Ausland auszuschütten) ...
Warum nicht auch mal die leidenden Kommunen im eigenen Land entlasten?
Meine Fragen an unsere Tutzinger Gemeinderäte:
-> Wie schätzen Sie dieses Thema ein?
-> Und wird ein kommunaler Schuldenschnitt von Ihren jeweiligen Parteien nachdrücklich unterstützt?