„Wer von Ihnen hat ein kommunales Ehrenamt inne?“ Professor Martin Burgi wollte es am Montag bei einem kommunalpolitischen Vortragsabend in der Tutzinger Akademie für politische Bildung von den Besuchern genau wissen. Auf die Frage des Juristen hoben sich viele Hände - sichtlich zu seiner Freude. In einer Vorlesung mit 300 Rechtsstudierenden habe sich auf die gleiche Frage kein einziger der Anwesenden gemeldet - ein Beleg für die Krise des Ehrenamts in Deutschland, meinte er, insbesondere des politischen Ehrenamts. Aber zur Tutzinger Veranstaltung mit dem Titel „Was ist das Gemeinwohl?“ waren Gemeinde- und Kreisräte aus dem ganzen Landkreis Starnberg gekommen, darunter viele Kommunalpolitiker aus Tutzing.
Viel Erklärungsbedarf sah Akademiedirektorin Prof. Ursula Münch: „Wer bestimmt eigentlich, was Gemeinwohl ist?“ Wie komme es zustande, wie gehe man in einer repräsentativen Demokratie mit Gemeinwohl-Orientierung um, an welcher Einheit richte sie sich aus - an der nächsten Umgebung, der Gemeinde, dem Landkreis, der ganzen Welt? Ob Gemeinwohl der neue Spielplatz, die Umgehungsstraße oder ein größeres Industriegebiet sei, auf diese Fragen hatte die Akademie das Thema schon in einem Vorbericht zu der Veranstaltung zugespitzt.
Die Artikulation vieler Sichtweisen
Einige Gäste wollten gleich Handlungsanleitungen haben. Der Tutzinger Gemeinderat Stefan Feldhütter (Freie Wähler) verwies auf die relativ neue Satzung zur „sozialgerechten Bodennutzung“, die bei neuem Baurecht vom Eigentümer eine gewisse Abtretung des Wertzuwachses für die Allgemeinheit verlangt: Ob die Experten den Kommunalpolitikern auch andere Werkzeuge der Gemeinwohl-Orientierung empfehlen könnten? Der Herrschinger Gemeinderat Rainer Guggenberger (Bürgergemeinschaft Herrsching) erkundigte sich nach einer „Hierarchie“ des Gemeinwohls: Fühle man sich eher der einen oder der anderen Gruppe verpflichtet?
Solche unmittelbar verwertbaren Tipps für die Arbeit in den Gemeinden gab es an diesem Abend nicht. Aber viele Hinweise zum Nachdenken gaben die Referenten den Kommunalpolitikern mit auf den Weg. Es gelte, „die Artikulation vieler Sichtweisen sicherzustellen“, sagte Prof. Dr. Dr. Johannes Wallacher, der Präsident der Hochschule für Philosophie in München. Gleichzeitig zeigte er sich allerdings sicher, dass dies nicht immer gelingt. Ob beispielsweise ein Landwirt stets sofort von den bäuerlichen Interessen auf die des Gemeinwohls umschalten kann, wenn er nach des Tages Arbeit abends als Gemeinderat agiert, das bezweifelte er.
Burgi, der an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität lehrt, weitete diese Bedenken noch aus: Parteien deckten meist nur bestimmte „Milieus“ ab, sagte er. Das gelte genauso für freie Wählervereinigungen: Sie alle bezögen ihre Informationen meist immer nur aus den selben Gruppen. Dass viele Interessen in Gemeinderäten fehlen, bestätigte Tutzings Bürgermeisterin Marlene Greinwald (Freie Wähler). So seien Menschen mit Behinderungen oder mit Migrationshintergrund stark benachteiligt, aber auch - neuerdings nach ihrer Beobachtung sogar wieder mehr - Frauen: „Das ist ein großes Thema fürs Gemeinwohl.“ Es müsse ständige Verpflichtung jeder Partei und jeder Gruppierung sein, „immer auch nach links und rechts zu schauen“, folgerte Burgi, statt immer auf die Gleichen zu hören.
Kommunen können in Einzelinteressen eingreifen
Das Gemeinwohl habe eine lange Tradition, erläuterte Wallacher, der Wirtschaftsingenieurwesen und Philosophie studiert hat. Es sei ein Gegenbegriff zu Einzel- oder Gruppeninteressen, immer bezogen auf „überindividuelle Kollektive“ und immer abhängig von einer Gerechtigkeits-Konzeption: „Es geht um das Wohl aller Menschen.“ Auch an aktuellen Ansätzen fehlt es nicht. Wallacher erwähnte die neue Enzyklika von Papst Franziskus über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft ("Fratelli tuti") und die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen, der sich laut Stiftungsrat „als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandergesetzt“ hat.
Viele Mahnungen sind keineswegs unumstritten. Mit der in seiner Enzyklika enthaltenen These, die „magische Theorie“ des Markt-Kapitalismus sei gescheitert, hat der Papst sofort Kritik von Ökonomen auf sich gezogen. Auch Wallacher beklagte ein Versagen des Marktes bei der Bereitstellung von Gemeingütern - gleichzeitig aber auch ein Versagen des Staates: Er sei nicht in der Lage, das Marktversagen zu überwinden. Dadurch kämen weitere Akteure ins Spiel: die Zivilgesellschaft, Unternehmen, die Wissenschaft, Religionsgemeinschaften.
Wallacher beschrieb das Gemeinwohl als eine globale Herausforderung. Dabei gebe es Neuerungen, so die Ausweitung des Gemeinwohls über die Generationen hinweg und der Sozialpflichtigkeit auf die Umwelt. Die Herausforderung bestehe darin, die lokalen und nationalen Bemühungen mit den globalen Maßnahmen abzustimmen. Das Grundgesetz gebe fürs Gemeinwohl nur einen Rahmen vor, aber nicht konkrete Instrumente, sagte er. Mit diesem Hinweis schrieb er auch den Kommunen, der untersten staatlichen Ebene, die Möglichkeit eines gewissen Eingriffs in Partikular-, also Einzel- und Minderheitsinteressen zu. Das könne beispielsweise der Fall sein, wenn eine Gemeinde Baugebote für bisher unbebaute Grundstücke durchzusetzen versuche.
„Übersteigerte Ableitungen“ aus der Datenschutzgrundverordnung
Eine Sicherung des Gemeinwohls sieht der Jurist Burgi unter anderem darin, wenn Partikularinteressen von den Entscheidungen ferngehalten werden. Diesem Ziel dienten unter anderem relativ strikte Befangenheitsregeln und möglichst transparente Kommunikation.
Eine recht sensible Frage hierzu steuerte der in Traubing lebende Tutzinger ÖDP-Vorsitzende Willi Neuner bei, der neuerdings Beisitzer in der Arbeitsgemeinschaft für Behindertenfragen im Landkreis Starnberg ist und sich selbst als fast blind beschrieb: Könne er als Betroffener als befangen gelten, wenn er sich für die Interessen von Menschen mit Behinderungen einsetze? In so einem Fall sei der Betreffende natürlich nicht befangen, erwiderte Burgi: „Man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.“ Der Maßstab sei die unmittelbare, persönliche Betroffenheit.
Die Tutzinger Gemeinderätin Christine Nimbach (Grüne) sah es kritisch, dass selbst Gemeinderäte wegen der Datenschutzgrundverordnung mittlerweile nicht mehr erführen, wer einen Bauantrag gestellt habe. Burgi neigte erkennbar dazu, diesen Regelungen nicht übertrieben viel Bedeutung beizumessen. Die Gemeinde sei eine staatliche Stelle, der man Daten offenbaren müsse, wenn man eine Baugenehmigung anstrebe: „Damit ist die Schwelle herabgesetzt.“ Es gebe „übersteigerte Ableitungen“ aus der Datenschutzgrundverordnung, sagte der Jurist.
Plädoyer für verstärkte Zusammenarbeit der Kommunen
Mehr Befruchtung des Gemeinwohls würde sich Burgi von einer verstärkten Kooperation der Kommunen untereinander versprechen - dies umso mehr, weil Bayern mit 2031 Gemeinden sehr kleinteilig sei, beispielsweise gegenüber Nordrhein-Westfalen mit nur 365 Gemeinden.
Vor einem verstärkten Aufkommen von Bürgerinitiativen warnte der Rechtswissenschaftler. Sie verfolgten oft Partikularinteressen, könnten falsche Erwartungen schüren und bildeten die Gefahr einer Konkurrenz zu Gemeinderäten und Bürgermeistern. „Damit wäre es nicht Gemeinwohl-förderlich, diese Instrumente weiter auszubauen“, meinte er. Viele seiner Kollegen beurteilten die direkte Demokratie geradezu euphorisch, doch damit beschädige man das Engagement derer, die repräsentative Ämter bekleideten.
Dieser Auffassung wollten nicht alle folgen. So verwies der Herrschinger Gemeinderat Guggenberger nachdrücklich auf durchaus positive Aspekte von Bürgerinitiativen. Bürgerforen könnten Gemeinderäten durchaus zu wichtigem Input verhelfen, ergänzte Tutzings Bürgermeisterin Greinwald. Gewiss könnten auch andere Personen Argumente beisteuern, bestätigte Burgi, doch: „In der Entscheidung muss es immer eine klare Trennlinie geben.“
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Die Diskussion zu diesem Thema sollte m.E. sehr intensiv und mit möglichst vielen Beteiligten fortgesetzt werden.
Wolfgang Walther