Gemeindeleben
18.1.2019
Von vorOrt.news

Asselborn: Europa muss sich zur Wehr setzen

Brexit, USA, Russland: Ein hochpolitischer Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing

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Freundliche Gespräche vor dem Beginn des offiziellen Teils: Bischof Bedford-Strohm und Minister Herrmann, dahinter Akademie-Direktor Hahn und der luxemburgische Minister Asselborn (von rechts) © L.G.

„Ich bin nicht der Ministerpräsident“, witzelte Florian Herrmann am Donnerstagabend in der Evangelischen Akademie. Der CSU-Politiker, Leiter der bayerischen Staatskanzlei, war an Stelle des bayerischen Regierungschefs Markus Söder nach Tutzing gekommen, der kurzfristig abgesagt hatte. Zu dessen Fernbleiben gab es in den offiziellen Reden nur beiläufige Bemerkungen. Ob es mit seiner Wahl zum Nachfolger von Horst Seehofer im CSU-Vorsitz zwei Tage später zu tun hatte oder ob es andere Gründe gab, das war zwar hier und da in Gesprächen am Rande und später in den Salons des Schlosses ein Thema, aber nicht bei den Reden im festlichen Musiksaal. Akademie-Direktor Udo Hahn stellte lediglich fest, dass Herrmann für die bayerische Staatsregierung gekommen sei.

Umso mehr Aufmerksamkeit schenkten die etwa 350 Gäste den anderen Vortragenden: außer Hahn auch dem evangelischen Landesvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm, der sich gerade in Hinblick aufs Thema Brexit teils hochpolitisch gab, und dem Festredner des Abends, Jean Asselborn aus Luxemburg. Der dienstälteste Außenminister der EU, einer der führenden europäischen Sozialdemokraten, ließ angesichts der aktuellen Entwicklungen in Großbritannien trotz eines flammenden Plädoyers für die Europäische Union in Hinblick auf eine Verhinderung des Brexit deutliche Skepsis durchklingen: Das Risiko eines ungeordneten Austritts der Briten aus der EU sei mit der jüngsten Abstimmung gestiegen. „Obwohl wir dies noch unter allen Umständen vermeiden wollen, müssen wir nichtsdestotrotz die Vorbereitungen weiter vorantreiben.“ Konkret erwähnte er dabei vor allem den Flug-, den Schiffs- und den Eisenbahnverkehr, aber auch die Versorgung mit Medikamenten „und vieles mehr.“

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Das übliche Ritual: Bischof Bedford-Strohm, Minister Herrmann, Minister Asselborn und Akademie-Direktor Hahn (von links) blicken zu den Fotografen © L.G.
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"Orban und Kurz haben den Europäischen Rat für ihre Zwecke missbraucht"

Bischof Bedford-Strohm, der auch Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland ist, warnte energisch vor anti-britischen Stimmungen auf dem Kontinent. Er forderte eine klare Botschaft an die Briten: „Wir wollen auf Euch als ein zentrales Stück Europa nicht verzichten.“ Die Verantwortung für das Friedensprojekt Europa stelle sich gerade auch den Kirchen, mahnte er: „Ich möchte, dass wir nie wieder Waffen segnen, mit denen sich ganze Völker gegenseitig umbringen.“

Die Europäische Union müsse mehr denn je zusammenhalten, mahnte Asselborn angesichts der aktuellen Entwicklungen in seiner mehr als einstündigen Rede: „Wenn wir gespalten sind, so wie die EU das leider bei der Verabschiedung des UNO-Migrationspaktes war, können, und werden, wir nicht ernst genommen werden.“ Scharf kritisierte er einige Regierungschefs, so die von Ungarn und Österreich: Verschiedene Staaten, „angeführt von den Herren Orban und Kurz“, hätten die Institution des Europäischen Rates für ihre Zwecke missbraucht, indem die Migrationspolitik immer wieder diskutiert worden sei: „Dadurch, dass der Europäische Rat mit seinen politischen Schlussfolgerungen nur im Konsens arbeiten kann, haben sie die Mehrheitsbestimmungen des Lissaboner Vertrages im legislativen Bereich schachmatt gesetzt.“

Aus diesem Grund setzte sich Asselborn klar dafür ein, in außenpolitischen Fragen den Zwang zur Einstimmigkeit aufzuheben und stattdessen den Weg in Richtung Mehrheitsentscheidungen zu wagen. Ansonsten riskiere die EU, zu einem „außenpolitischen Zwerg“ zu werden. Dabei erwähnte der Luxemburger auch, dass der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung seit 1900 von damals einem Viertel auf nur noch fünf Prozent gesunken sei. Nachdrücklich plädierte er für die europäische Integration der Balkanstaaten, auch um zu vermeiden, „dass andere Akteure ihren Einfluss dort ausweiten“.

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Unter den Besuchern: der frühere Bundesverfassungsgerichts-Präsident Papier (2. Reihe, 2.v.re.), Ex-Landtagspräsidentin Stamm und die Landtagsabgeordnete Eiling-Hütig (3. Reihe, 4. und 3. von re) © L.G.

Warnung vor einem Europa der egoistischen Nationalstaaten

Bei der Migration führt nach Überzeugung von Asselborn kein Weg an einer automatischen Verteilung auf die EU-Staaten vorbei, auch wenn man in bestimmten Umständen verschiedenen Mitgliedsstaaten Ausnahmeregeln zugestehen könne. Zurzeit zeige sich aber an Beispielen wie dem der 300 gestrandeten Menschen auf Malta, dass maximal zehn Mitgliedstaaten bereit seien, sich solidarisch einzubringen. Asselborn stellte sehr kritisch eine der zentralen Fragen: „Sind wir wieder ein Europa der egoistischen Nationalstaaten geworden?“ Der bevorstehenden Wahl des Europaparlaments blickt er besorgt entgegen: Migration riskiere im Wahlkampf von den Rechtsnationalisten als Übel unserer Zivilisation dargestellt zu werden. „Das können und werden wir nicht zulassen!“, rief er aus.

Schließlich nahm er sich auch Russland und die USA unter ihrem Präsidenten Donald Trump vor. Er mache sich Sorgen, wenn Großmächte wie die Vereinigten Staaten dem Multilaterismus zusehends den Rücken kehrten oder wie im Falle Russlands die Regeln des internationalen Rechts verletzten, „ohne Rücksicht auf Verluste“. Dabei nannte er konkret „die illegale Annexion der Krim“ und eine Destabilisierung der Ostukraine durch Russland. Es helfe auch nicht unbedingt, sagte er, wenn die Wirtschaftsmacht Amerika den Eindruck vermittle, „ohne Rücksicht auf ihre Partner oder auf den Fortbestand der multilateralen Strukturen zu agieren, und die Spielregeln maßgeblich alleine bestimmen zu wollen“. Deshalb sei es auch in dieser Hinsicht am wichtigsten, dass die EU in ihrer Antwort vereint bleibe und sich nicht selbst ein Bein stelle. Ausdrücklich forderte Asselborn: „Europa muss sich zur Wehr setzen und notfalls mit Gegenmaßnahmen reagieren, wenn europäische Wirtschaftszweige regelwidrig und unberechtigt unter Beschuss geraten.“

Hahn: Man sollte den Blick nicht nur auf den Weg in den Untergang richten

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Gelegenheit für Gedankenaustausch: Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, mit Akademie-Direktor Hahn © L.G.

Akademie-Direktor Udo Hahn setzte sich nachdrücklich für eine Verteidigung der demokratischen Streitkultur ein. Sorgenvoll verwies er auf Stimmungsmache auf der Straße, Attacken auf Andersdenkende oder Andersaussehende und Selbstjustiz: „Unsere Gesellschaft ist von Verunsicherung geprägt.“ Der Glaube an die Stabilität der Strukturen, die bisher als absolut verlässlich gegolten hätten, habe Risse bekommen. „Ist so ein komplexes System wie unser Staat des Grundgesetzes zukunftstauglich?“, fragte er.

Aufgefallen ist Hahn auch eine seiner Meinung nach übertriebene Betonung des Vergangenen. „Meines Erachtens schauen wir gegenwärtig zu sehr auf die Entwicklungen vor einhundert Jahren“, sagte er. Besonders der „Weg in den Untergang“ stehe dabei oft im Vordergrund. Zu wenig beachtet würden die bemerkenswerten Aufbrüche der Jahre 1918 und 1919 – etwa die Etablierung einer demokratischen Verfassung und Wahlen, bei denen erstmals alle, auch Frauen, wählen durften. Hahn wollte dabei nicht missverstanden werden: „Es ist von großer Bedeutung, die Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik zu verstehen und die richtigen Schlüsse für unsere Zeit daraus zu ziehen.“ Doch wenn man den Blick nur auf die Katastrophe richte, werde man weder Weimar noch unserer Zeit gerecht, in der Deutschland über seine politische Zukunft in Europa mitbestimme.

Quelle Titelbild: L.G.
ID: 1528
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